Lindemann - „F & M"-Tour - Palladium, Köln - 06.02.2020
Veranstaltungsort:
Stadt: Köln, Deutschland
Location: Palladium
Kapazität: ca. 4.000
Stehplätze: Ja
Sitzplätze: Nein
Homepage: http://www.palladium-koeln.de
Einleitung:
Es ist Donnerstag, der 06.02.2020, später Nachmittag. Heute befinde ich mich nach etwas längerer Zeit mal wieder auf dem Weg nach Köln. Genauer gesagt, in Richtung des Stadtteils Köln-Mülheim, denn dort befindet sich direkt gegenüber des lauschigen E-Werks auch das altehrwürdige Palladium, in welchem die medial umstrittenen „Lindemann“, das im Jahr 2015 von Peter Tägtren und Till Lindemann gegründete Projekt, heute das nunmehr zweite Konzert ihrer ersten, offiziellen Live Tournee geben, die sie in den folgenden Wochen neben wenigen Terminen in Deutschland unter anderem auch nach Österreich, Tschechien, in die Schweiz, Frankreich, England, Finnland und Russland führen wird. Da Konzerte unter der Woche in etwas weiter entfernten Städten ja zumindest zeitlich gesehen immer so eine Sache für sich sind, habe ich mich mit gleich zwei Tagen Urlaub und einer entspannten Anreise im gemütlichen ICE entsprechend gut vorbereitet, denn bei solch einem großen Namen in einer vergleichsweise kleinen Location ist erhöhtes Besucheraufkommen zu früher Stunde garantiert und möglichst zeitiges Erscheinen somit unerlässlich. Meine Vorahnung bestätigt sich, als ich schließlich vor dem Veranstaltungsort aus dem Taxi steige und nun erstmal gefühlt einige Kilometer zurücklegen darf, um mich am Ende der scheinbar endlos langen Warteschlange einzureihen. Wie ich erfahre, haben tatsächlich gar nicht mal so wenige Fans bereits gegen 11.00 Uhr morgens hier ihre Lager mit Campingstühlen und Co. aufgeschlagen, um unmittelbar vorne dabei sein zu können... Wow. Obwohl es jetzt nur noch knapp neunzig Minuten sind, bis sich die Türen endlich öffnen, reicht mir das völlig aus. Pünktlich um 18.00 Uhr geht es dann los, wenngleich sich der Einlass aufgrund der vielen Kontrollen der Personalausweise auch leider deutlich in die Länge zieht. Anders, als bei „Rammstein“ sind die Tickets zwar nicht personalisiert, dafür unterliegt die „F & M“-Tour aufgrund ihrer „drastischen Darstellung“ einer Altersbegrenzung ab achtzehn Jahren und ist somit nur für Erwachsene freigegeben. Ziemlich spannend, so etwas habe ich bisher auch noch nicht erlebt! Innen angekommen, haste ich sofort zur Garderobe ins Untergeschoss, um meine Jacke abzugeben und dann wieder nach oben in den Saal, wo ich zum Glück noch einen Platz vor dem Mischpult bekomme. Den großen Merchandise-Stand von „Lindemann“ und den beiden Support-Acts, an dem es neben CDs, Schlüsselanhängern und Mützen natürlich auch verschiedene Zipper-Jacken und T-Shirts gibt, lasse ich vorerst aus und verschiebe meinen Einkauf auf später. Eine sehr gute Wahl, denn mittlerweile wird es rasend schnell voller und das, obwohl es noch fast zwei Stunden dauert, bis das erste Mal Musik aus den Boxen dringen wird. Zeit für ein kleines, kühles Kölsch...
Jadu:
Pünktlich um 20.00 Uhr geht es dann auch schon mit dem ersten Support-Act des heutigen Abends los: „Jadu“ ist das selbstbetitelte Projekt einer neuen Künstlerin aus der Hauptstadt, die mit bürgerlichem Namen eigentlich Jadula Laciny heißt. Trat die junge Frau in den vergangenen Jahren vorrangig durch die Zusammenarbeit mit anderen Acts oder als Songwriterin für ebendiese in Erscheinung, so setzt sie jetzt voll und ganz auf die Offensive. „Nachricht Vom Feind“ heißt das Debüt, welches bereits im vergangenen Jahr für viel Aufmerksamkeit sorgte, denn der martialische Titel sollte Programm sein. Dass das thematisch übergeordnete Konzept irgendwo zwischen Weltkrieg-Ästhetik, Uniform-Fetisch und Militär-Symbolik auch live visuell eine entsprechende Inszenierung erfahren würde, war dann wohl spätestens mit dem Pressetext zur aktuellen Tournee klar, in dem es hieß, man sei „dem Marschbefehl von Till gefolgt, um gemeinsam in die Schlacht zu ziehen“. Dementsprechend aufmerksam ist das Publikum nun auch, als die Live-Band aus Schlagzeuger Offizier Lonsdorfer, Keyboarder Kampfpilot Björke und Gitarrist Hauptmann Larsson die spärlich ausgeleuchtete Bühne unter unverständlichen Fetzen von Funksprüchen und aufheulenden Sirenen betreten und sich hinter die mit allerlei Tarnnetzen abgehängten Instrumente begeben. Dicht gefolgt von Laciny selbst, die jetzt an einem Rednerpult Platz nimmt und damit beginnt, die ersten Zeilen der eröffnenden Quasi-Ouvertüre „Feldzug Berlin“ zu singen, die danach fließend im eigentlichen Opener „Treibjagd“ mit allerhand drückenden Beats und hellen Fanfaren mündet. Fernab vom liebevoll detaillierten Bühnenbild sind auch alle darauf agierenden Musiker mit ihren individuellen Monturen und Armbinden optisch entsprechend ausgestattet worden, was erheblich zur dichten Immersion beiträgt - Sehr cool! Die bereits bekannte Single-Auskopplung „Uniform“ zollt dem gestrengen Kleidungsstil dann seinen Tribut und lässt dabei auch immer wieder augenzwinkernd eindeutig zweideutige Parallelen zu. Hier schnallt sich die sympathische Frontfrau, die in ihrer hautengen Lack-Montur schnell alle Blicke auf sich zieht, sogar selbst eine Gitarre um und rockt mit einem eigenen Solo-Part. Das erst kürzlich veröffentlichte „Auf Drei“ lässt anschließend wieder etwas sanftere Töne zu, ohne etwas an perfekt inszenierter, emotionaler Dramatik einzubüßen. Das Gebotene ist überraschend schwer einzuordnen und enorm abwechslungsreich, jeder Song scheint extrem unberechenbar. Wollte man es dennoch bestmöglich zusammenfassen, so wäre es wohl am ehesten eine runde Mischung aus Elementen der Klassik, Pop und NDH. „Military Dream Pop“ nennt Laciny ihren gewagten Stil-Mix selbst und trifft den Nagel damit auf den Kopf. Zu „Weltenbrand“ kommt sogar noch ein Megafon zum Einsatz, bevor die „Friedliche Armee“ als so kritische, wie auch naturverbundene Hymne des Menschen Umgang mit seiner direkten Umwelt infrage stellt. Das provokante „Sirenen & Wagner“, welches vordergründig die letzten Stunden von Eva Braun und Adolf Hitler behandelt, setzt dann den artig bejubelten Schlusspunkt eines durchaus interessanten Gigs, der sein volles Potential ob des teils mangelhaft abgemischten Sounds leider nicht annähernd ausreizen konnte. Zu oft überschattete der Bass den kaum verständlichen Gesang, was aber natürlich nichts an der guten Leistung von „Jadu“ ändert. Wer sich einmal selbst von den vielversprechenden Qualitäten der Newcomerin überzeugen möchte, hat beispielsweise beim diesjährigen Amphi Festival am Kölner Tanzbrunnen oder ab Spätherbst die Möglichkeit dazu, wenn es dann auf eigene Headliner-Tournee geht. Allen Interessierten aus Nordrhein-Westfalen sei dabei der Termin am 30.10.2020 im Kulttempel Oberhausen ans Herz gelegt.
Aesthetic Perfection:
Schon gegen 20.45 Uhr geht es nahtlos mit dem zweiten Support weiter im Programm und für diesen Slot hat man sich niemand Geringeren als die beliebten US-Amerikaner von „Aesthetic Perfection“ ins Boot geholt, von denen schon im vergangen Jahr gemunkelt wurde, sie würden „Rammstein“ auf ihrer europäischen Stadtion-Tournee begleiten. Im Jahr 2000 in Hollywood gegründet, erlangte das aufstrebende Projekt von Mastermind Daniel Graves zunächst noch als Vorband von bereits etablierten Acts wie „Combichrist“, „Mesh“ oder „Covenant“ erste Aufmerksamkeit, bevor dann Show-Cases auf größeren Festivals und eigenständige Konzerte folgten, die für ausverkaufte Häuser rund um den ganzen Globus sorgten. Ein Grund für den stetig steigenden Erfolg dürfte wohl die breite Abdeckung des Electro-Genres sein, das von Pop und Dark Wave bis Industrial und Aggrotech so ziemlich alles umspannt, was die Sparte zu bieten hat. „Industrial Pop“, wie die Band ihr Genre selbst konkretisiert. Im Rahmen der Unabhängigkeit gründete Graves msogar just ein eigenes Label, unter deren Flagge auch das aktuelle Album via Crowdfunding erschien. Das Intro sorgt mit seinem leichtfüßig groovenden Serienkiller-Swing, dem Volkslied über die Gräueltaten des Hannoveraner Mörders Fritz Haarmann in der Interpretation von Ina Brosow und Rudolf Scherfling, für einige verdutzte Gesichter im Publikum, zu welchem Schlagzeuger Joe Letz, Keyboarder Elliot Berlin und Sänger Daniel Graves nacheinander die Bretter entern, um dann mit dem aggressiv bretternden „Gods & Gold“ vom neuen Release „Into The Black“ loszulegen. Der groß gewachsene Fronter mit dem verwegen ins Gesicht gezogenen Hut springt unterdessen auf die hohen Monitorboxen, wirbelt energiegeladen umher, sprintet von der einen zur anderen Seite und verblüfft insbesondere mit seiner extrem wandelbaren Stimme, welcher er in kleinsten Sekundenbruchteilen sowohl engelsgleich cleane Passagen als auch grelle Screams und tiefe Growls entlockt. Während bei „Rhythm & Control“ die Gitarren klar im Vordergrund stehen, regieren beim Szene-Klassiker „Antibody“ hingegen wieder wummernde Bässe und minimalistisch peitschende Beats. Auch das surreal verschrobene „Wickedness“ und das finstere „Dark Ages“ gliedern sich in dieser Marschrichtung grandios ein und wissen, der Menge ordentlich einzuheizen. Im direkten Vergleich zu „Jadu“ leistet die Tontechnik im generell eher schwierig zu beschallenden Palladium ganz hervorragende Arbeit: Der Klang ist satt und druckvoll, dennoch kann man den Gesang weitestgehend gut verstehen. So muss das! Mit „If I Die“ geht’s schließlich auf die Zielgerade zu, bis dann der viel zu frühe Abschied naht: Zum Set-Closer „Love Like Lies“ verdingt Letz sich anfangs an einer Trommel, die er von den Gästen in der ersten Reihe hochhalten lässt, direkt im Publikum, während die anderen beiden Musiker auf der Bühne weiterhin Gas geben. Eine ziemlich coole Aktion zu dieser ohnehin schon powernden Nummer, die Köln offensichtlich zu gefallen scheint. Generell bin ich von den euphorischen Reaktionen seitens der Besucher freudig überrascht, ist dieses interessierte Verhalten gegenüber Genre-fremden Vorbands doch sicher nicht selbstverständlich. „Danke für eure Aufmerksamkeit und gleich noch viel Spaß mit „Lindemann“... Danke!“, richtet Graves sichtlich erfreut ein paar persönliche Worte an die begeistert jubelnde Masse, ehe er mit seiner Band dann die Bühne für den Gastgeber räumt...
Lindemann:
Die überdimensional große Leinwand, welche in ihren beeindruckenden Ausmaßen nahezu den kompletten Hintergrund ausfüllt, zieht gegen 21.50 Uhr alle Aufmerksamkeit des merklich gespannt wartenden Publikums auf sich und zeigt ein mehrere Minuten langes Video im Stil eines klassischen Stummfilms mit passender, musikalischer Untermalung. Hierbei eröffnet sich den Zuschauern ein surreal anmutendes Szenario, in dem ein in dicke Windeln gehüllter Protagonist, unbekümmert an seinem Daumen nuckelnd, bei Tageslicht mit tapsigen Schritten durch die geschäftigen Straßen von Amsterdam irrt, dem die Passanten ungläubig nachschauen. Der so amüsante, wie zugleich auch verstörende Kurzfilm endet mit einem beherzten Sprung in den Grachten-Kanal, bevor es anschließend im gesamten Saal für wenige, doch quälend lang erscheinende Sekunden wieder ganz und gar dunkel wird. Plötzlich heult ein bekanntes, raues Riff aus den Boxen auf, geht in einen sich in seiner fordernden Intensität stetig steigernden Loop über und zerreißt die einstige Stille dann wieder im Handumdrehen. Als die Endlosschleife von einem eindringlich pochenden Beat untermauert wird, richten sich die fein gebündelten Lichtkegel der oberen Scheinwerfer hinab zum meterhohen Podest, auf welchem nun die gesamte Band, die wie regungslose Statuen nebeneinander aufgereiht stehen, plötzlich aus dem Nichts heraus erscheint. Keine Zweifel, es sind „Lindemann“: Schlagzeuger Sebastian Tägtren, Bassist Jonathan Olssen, die beiden Gitarristen Sebastian Svalland und Peter Tägtren, sowie Frontmann und Sänger Till Lindemann. Alle Musiker sind, wie von der radikalen Kunstbewegung des berüchtigten Wiener Aktionismus bekannt, ausnahmslos in blütenweiße, doch teils dreckig befleckte Maßanzüge gekleidet. Die starren und ausdruckslosen Gesichter fahl geschminkt, die leeren Augen schwarz umrandet. Nur wenige Sekunden später steigen sie nacheinander im Gleichschritt die kleinen Treppenstufen zu den Seiten hinab und suchen ihre jeweiligen Positionen an den Instrumenten auf. Ihnen folgt zuletzt der Mastermind höchstselbst, auf seinem Haupt eine Offiziersmütze mit weitem Schirm. Das kühl anmutende Bühnenbild ist bis auf einige Scheinwerfer in verschiedenen Ausführungen auffallend schmucklos und steril in klinisch reinem Weiß gehalten, die vordere Front säumen derweil drei Mikrofonstative. „If you want to die or if you want to chill... Even if you want to get high, whatever happens take a pill!“, raunt Lindemann zynisch. Zum Opener „Skills In Pills“, dem furiosen Titeltrack des im Jahr 2015 erschienenen Solo-Debüts, regnet es auf der Leinwand jetzt allerlei bunte Kapseln in allen nur erdenklichen Formen und Farben, während sich gequält wirkende Gesichter im Sekundentakt übergeben oder abschließend eine der Pillen langsam aus einem After ausgeschieden wird. Es sollen bei Weitem nicht die einzigen Körperflüssigkeiten oder gar expliziten Szenen an diesem Abend bleiben... Da gehören die visuellen Akzente beim folgenden „Ladyboy“, bei denen eine androgyne Silhouette inklusive des sich überdeutlich abzeichnenden Gemächts vor der malerischen Kulisse eines Sonnenuntergangs tanzt, schon zur ästhetisch harmlosen Kost. Einen kleinen Technik-Aussetzer beim Ton straft der Sänger ab, indem er das Mikrofon zuerst lustlos und entnervt auf den Boden schmettert, ehe er dann unter begeistertem Jubel dessen gesamte Halterung mit mehreren Schlägen auf dem Boden zertrümmert. Beim druckvoll schmetternden Epos „Fat“, das eine herrlich überdrehte Hymne irgendwo zwischen Quasi-Bodypositivity und überreizten Fetisch-Gelüsten darstellt, reiben sich die beleibten Körper zweier Damen erst lustvoll mit glänzendem Fett ein, bevor sie sich dann wie beim Schlamm-Catchen gemeinsam auf Lindemann stürzen. Nicht weniger verstörend, wenngleich auch gänzlich anderer Natur, sind dann die von einer KI willkürlich generierten Szenen in schwarz-weißen Farbfiltern beim verzweifelten „Ich Weiß Es Nicht“, zu dessen finster treibenden Rhythmen die Band jetzt im grell blitzenden Stroboskoplicht durch dichte Nebelwolken marschiert. Der Sound ist erschütternd druckvoll und übermächtig laut, die Atmosphäre stets einnehmend und bedrückend dunkel: „Lindemann“ gelingt es mit erstaunlich geringen Mitteln, die sich meistenteils allein auf den videografischen Aspekt und die vereinnahmende Performance der Band beschränken, in einen tiefen Sog aus bizarren Abgründig- und Abscheulichkeiten zu ziehen.
So etwa auch beim sich anschließenden „Allesfresser“, einem der zentralen Kernstücke der modernen Theater-Adaption von „Hänsel & Gretel“ im Hamburger Thalia Theater, für deren musikalische Begleitung das Duo aus Tägtren und Lindemann in 2018 verantwortlich zeichnete. Für die süffisante Ode an die Völlerei hat man sich für die vorderen Reihen eine böse Überraschung einfallen lassen, als im elektronisch gelagerten Mittelpart plötzlich eine vollständig gedeckte Tafel von der Crew auf die Bretter geschoben wird. Ohne auch nur einen Moment zu zögern, macht sich die gesamte Band sogleich daran, die sich darauf befindlichen Sahnetorten mit gezielten Würfen in die Menge zu befördern... Eine ziemlich klebrige Angelegenheit, bei der manch einem Gast das Lachen mit Sicherheit zwangsläufig im Halse steckenbleibt. Der vergleichsweise leichtfüßig groovende Titeltrack „Frau & Mann“ kommt danach ganz ohne visuelle Schock- und Ekel-Effekthascherei daher, dafür darf sich das Publikum auf Anweisung des Frontmanns dann im gemeinsamen Singen üben, bis im ganzen Palladium nur noch ein einziges, lautes „Ai, Ai, Ai“ zu hören ist. Doch schon für die provokante Single-Auskopplung „Knebel“, die mit ihrem unzensierten One-Shot-Video in Medien und Fangemeinde heftig zu polarisieren wusste, wird wieder reichlich etwas fürs Auge geboten: Für die ersten beiden Strophen wird Lindemann auf einem hydraulischen Stuhl in die Höhe gefahren, zum aufrüttelnden Wendepunkt des Songs zerschlägt Tägtren dann seine Akustikgitarre und somit auch die lauschige Lagerfeuer-Atmosphäre mit Western-Flair mit wenigen Hieben auf dem Boden. Natürlich darf parallel dazu das groteske Bildmaterial einmal mehr nicht fehlen, wenn der Sänger die nackte Pornodarstellerin Charlotte Satre auf einem Sackkarren umherschiebt oder sie auf einer Ledercouch sitzend in seinem Gedichtband „In Stillen Nächten“ blättert, bis dann auf einmal augenzwinkernd ein großer „Censored“-Schriftzug aufblitzt und zur bereits bekannten Szene springt, in welcher der Frontmann einem Aal unter Wasser den Kopf abbeißt. Zugegeben, es ist oftmals harter Tobak, der aber bereits im Vorfeld genau so zu erwarten war. Um einer etwaigen Reizüberflutung vorzubeugen, greift an dieser Stelle das melancholische „Home Sweet Home“ und setzt mit deutlich ruhigeren Tönen und einer sanften Lichtinstallation gediegene Akzente. Es soll wohlgemerkt die einzige Ballade des heutigen Abends sein. Dem tragisch-selbstironischen „Cowboy“ geht erneut ein verschrobenes Video im Stil eines waschechten Italo-Western voraus, während des Songs selbst ist der Sänger unter anderem in Revolverhelden-Montur beim wilden Ritt auf einem mechanischen Elefanten zu sehen. „Golden Shower“ sprengt danach wieder vollends den Rahmen und bricht mit jeglichen Tabus des guten Geschmacks... Wie könnte es angesichts des Titels auch anders sein? Hier gibt es das weibliche Geschlechtsorgan beim Wasserlassen jetzt zuhauf zu sehen: In Nahaufnahme oder mit zur fiesen Synthie-Melodie „singenden“ Schamlippen... Wow. Das durchweg bedrückende „Blut“ kehrt danach wieder zu deutlich mehr inhaltlicher Ernsthaftigkeit und musikalischer Schwere zurück, in dessen mitreißendem Refrain nun immer wieder ein gewaltiger Sprühregen aus einigen Düsen am vorderen Bühnenrand einsetzt. Ein echtes, inszenatorisches Highlight für Augen und Ohren gleichermaßen!
Als es anschließend wieder dunkel im Saal wird, rückt die große Leinwand abermals unweigerlich mit einem weiteren, amüsanten Video-Clip in den Fokus, in dem eine nackte Frau auf dem Schoß von Lindemann liegt und in den nächsten Minuten die Aufgabe hat, eine Lyrik aus seinem Gedichtband „In Stillen Nächten“ in möglichst fehlerfreiem Deutsch vorzutragen. Jede falsche Aussprache oder Betonung straft der aufmerksam zuhörende Sänger dabei mit einem kleinen Klaps ab, was für einige Lacher im Publikum sorgt. Es dauert nicht mehr lange und schon setzt ein elektronisch getriebener Beat ein, während der mit einem silbernen Glitzer-Umhang bekleidete Svalland die nunmehr in regenbogenfarbene, bunte Lichter getauchte Bühne betritt und alsbald auf einer hydraulischen Säule nach oben gehievt wird, um von dort aus die ausgelassene Menge zum weiteren Mitmachen zu animieren. Infernalisch tosender Jubel und große Überraschung macht sich jetzt im ganzen Palladium breit, als sich aus der hinteren Hälfte des gefüllten Saals die aus dem zugehörigen Musik-Video bekannte, durchsichtige Kugel langsam durch die dichten Reihen aus Fans schiebt: „Platz Eins“! Innerhalb dieser: Natürlich das freudig performende Duo aus Mastermind Till Lindemann und Peter Tägtren mit einer sogenannten Keytar, einem ihm um den Hals hängenden Keyboard, das jedoch ganz offensichtlich keinen einzigen Ton von sich gibt. Lustlos drückt der Gitarrist auf den Tasten herum und zuckt mit den Schultern. Ein kleiner, versteckter Seitenhieb auf die ausufernden Playback-Eskapaden und das mangelnde Talent der oftmals so künstlich hochgehypten Spitzenreiter in den aktuellen Charts. „Vor, zurück, zurück und vor...“ - Zielstrebig bahnt sich das Zweigespann einen Weg durch das eifrig klatschende und fotografierende Meer aus abertausenden Händen und Smartphone-Bildschirmen, um schließlich von einigen Security-Mitarbeitern begleitet, vor der Bühne wieder aus dem rundlichen Gefährt zu steigen, wo es dann mit der zynischen Hymne zur Abtreibung „Praise Abort“ samt allerlei umhertollenden Ferkeln im Video-Clip weitergeht. Für „Fish On“, das letzte Lied vor dem Zugabe-Block, haben sich „Lindemann“ einen weiteren, äußerst provokanten Effekt einfallen lassen: Nun trägt der in einen schwarzen Regenmantel gehüllte Sänger einen kleinen Bauchladen vor sich her, in welchem sich roher Fisch am ganzen Stück befindet, den er erst mit einem kleinen Messer zweiteilt, bevor er ihn sodann süffisant lächelnd ins Publikum wirft. Doch damit noch lange nicht genug, denn im darauffolgenden Solo-Part begibt sich Lindemann hinter eine sperrige Vorrichtung, die einem wuchtigen Katapult gleicht, um die einstigen Meeresbewohner jetzt auf diesem Wege in die Menge zu befördern. Es ist, wie so vieles an diesem Abend, durchaus geschmacklos und nicht minder makaber, der seit jeher gewohnt schwarze Humor des berüchtigten „Rammstein“-Lyrikers eben. Die Fans stört das alles nach einem kurzen Schockmoment selbstredend herzlich wenig. Nein, im Gegenteil: Es dauert nicht mehr lange und schon entsteht eine kleine, spaßige Lebensmittel-Schlacht im Palladium, bei welcher die glitschigen Überreste der Makrelen johlend aus dem Innenraum auf den Balkon hinauf und von dort aus wieder zurückgeworfen werden. Angesichts dessen müssen selbst die Musiker gehörig schmunzeln, bevor diese gemeinsam die Bretter verlassen und das Kölner Publikum wortlos seiner neuen Beschäftigung überlassen. Natürlich soll es das aber noch nicht gewesen sein, denn mit der rockigen „Pain“-Version des lüsternen Tango-Verschnitts „Ach So Gern“ und dem fordernd powerden Up-Tempo „Steh Auf“ geht es schon nach nur wenigen Minuten weiter. Unterdessen wird die sonst so rohe Bildgewalt erstaunlich zurückgehalten und zeigt lediglich wenige Ausschnitte von bereits bekanntem Material. Lediglich beim finalen und damit endgültigen Set-Closer „Gummi“ sind jetzt nochmals pikant-amüsante Szenen zu sehen, in welchen die Künstler etwa in Folie eingewickelt werden. „Danke!“, fasst Lindemann sich gewohnt kurz und lässt sein Mikrofon rücksichtslos auf den Boden fallen, bevor er sich dann mit den übrigen Mitgliedern zu einer knappen Verbeugung wieder auf dem hohen Podest einfindet und im Anschluss daran so plötzlich verschwindet, wie er vor rund einhundert Minuten im Palladium zu Köln erschienen ist. Wer den Saal nun bereits verlassen will, verpasst tatsächlich eine ganze Menge, denn endgültig beschlossen wird die Show von einem letzten Video-Clip, der abermals in Stummfilm-Optik daherkommt: Hier sind zwei junge Damen zu sehen, die den Sänger im geräumigen Unterbau der aktuellen „Rammstein“-Bühne erst oral verwöhnen, bis dieser sich schließlich die Hose zuknöpft und dann unbekümmert durch den tiefen Schacht unter dem Schlagzeug hinaus vor die beeindruckende Kulisse eines ausverkauften, jubelnden Stadions tritt, um „Deutschland“ abzustimmen... Es ist der äußerst passende und selbstironische Abschluss eines durchweg sehr unterhaltsamen Abends, der versauten Rock‘n‘Roll, zweischneidige Lyrik, bizarre Visuals und (gewollt) abstoßende Perversion in einem ansonsten fast schon puristischen Gewand der provokanten Selbstinszenierung zu vereinen wusste. Ob es nun genau das oder vielleicht doch etwas ganz anderes war, was manche der Besucher im Voraus erwartet haben? Fest steht jedoch, dass „Lindemann“ insbesondere live exakt das tun, was sie am Besten können und nicht zuletzt durch die einzigartig radikale Kunst-Kompromisslosigkeit ihres Sängers par excellence beherrschen: Spitzfindig mit allerhand Geschmacklosigkeiten anecken, dabei jegliche Erwartungshaltungen brechen und die menschliche Faszination an triebhaften Abgründen wecken, welche als verzerrtes Spiegelbild selbst noch dem prüdesten Rezipienten danach nur umso bewusster macht, dass im Zentrum von Lust, Wut, Trauer und Gewalt keine unserer Westen wirklich weiß ist und wir alle gerade deshalb hin und wieder mal ein kleines bisschen Horror-Show im Leben brauchen. Chapeau, die Herren!
Setlist:
01. Intro
02. Skills In Pills
03. Ladyboy
04. Fat
05. Ich Weiß Es Nicht
06. Allesfresser
07. Frau & Mann
08. Knebel
09. Home Sweet Home
10. Cowboy
11. Golden Shower
12. Blut
13. Wer Weiß Das Schon (Video)
14. Platz Eins
15. Praise Abort
16. Fish On
17. Ach So Gern
18. Steh Auf
19. Gummi
20. Outro
Impressionen:
Matthias Matthies - Matthias Matthies.de
http://matthiasmatthies.de