In Extremo - „Kompass Zur Sonne"-Tour - Palladium, Köln - 22.12.2022
Veranstaltungsort:
Stadt: Köln, Deutschland
Location: Palladium
Kapazität: ca. 4.000
Stehplätze: Ja
Sitzplätze: Nein
Homepage: http://www.palladium-koeln.de
Einleitung: Was war das noch für eine helle Freude, als im Spätherbst 2019 über die offizielle Homepage und die sozialen Netzwerke der Band plötzlich eine ausgedehnte Tournee mit vielen Terminen in insgesamt zehn deutschen Städten und einem ausgewählten Gastspiel in Österreich zum im Folgejahr kommenden Studioalbum, so viel erfuhren die euphorischen Fans zumindest schon, angekündigt wurde. Mit dabei gleich drei verschiedene Support-Acts, je auf die verschiedenen Städte verteilt: „Paddy And The Rats“, „Lacuna Coil“ und „Django 3000“. Doch was nur wenige Monate später folgen und fortan die ganze Welt in Atem und eisernem Griff halten sollte, konnte in diesem abnormen Ausmaß jedoch wohl niemand vorausahnen. Die massiven Auswirkungen jener globalen Katastrophe machten auch insbesondere vor der Veranstaltungsbranche, Kunst und Kultur keinen Halt und hallen selbst heute, über zwei Jahre später, noch immer als schreckliches Echo so flächendeckend wie gleichermaßen verheerend nach, dass die schmerzlichen Nachwehen an allen Ecken und Ende zu spüren sind. Was am Ende davon bleibt, sind schwer zu deckende Kosten, ausbleibende Kartenverkäufe, weitere Verschiebungen und Absagen aus Planungsunsicherheit und nicht zuletzt Zukunftsängste um die eigene Existenz. So kam es Anfang 2020 dann auch für die sechs Spielmänner von „In Extremo“ schließlich Schlag auf Schlag: Das für März angesetzte Album „Kompass Zur Sonne“ wurde aufgrund von knappen Kapazitäten in den Produktionsstätten und drohendem Ressourcen-Mangel auf Mai verschoben, das geplante Listening-Event in Berlin aufgrund der geltenden Beschränkungen abgesagt. Es sollte also nicht mehr lange dauern, bis auch die Konzerte verlegt werden mussten, was einer schier endlosen Odyssee gleichkommen sollte: So wurde etwa die Kölner Show vom ursprünglichen 02.05.2020 mit Hoffnung auf eine Entspannung der allgemeinen Lage mit dem 23.12.2020 erst auf den Winter des gleichen Jahres gelegt und nur wenige Monate darauf auf den 27.03.2021. Als sich jedoch langsam abzeichnete, dass Konzerte im zuvor gewohnten Rahmen ohne Beschränkungen und andere Regularien sobald nicht mehr möglich sein würden, startete man die „Endlich Live!“-Reihe mit einer Handvoll an Open-Airs, die den geltenden Auflagen entsprachen und fasste den Zeitraum für die erneute Verschiebung mit dem 23.04.2022 vorausschauend weiter. Tatsächlich sollte es in diesem Jahr dann soweit sein und die „Kompass Zur Sonne“-Tour stand in den Startlöchern, doch die Pechsträhne wollte einfach nicht abreißen: Nachdem Stuttgart, Saarbrücken und Zürich aus produktionstechnischen Gründen leider gecancelt wurden, mussten, als wäre all das nicht schon längst genug gewesen, ausgerechnet die beiden ersten Auftakt-Gigs in Wiesbaden und Köln aufgrund zweier positiver Corona-Fälle innerhalb der Band in den Winter gelegt werden. Stattdessen startete die Reise in Bremen… Dementsprechend ist es ein ziemlich unwirkliches Gefühl, sich an diesem Donnerstag Abend, dem 22.12.2022, doch tatsächlich auf den Weg in Richtung der Domstadt zu machen. Es ist kalt und regnerisch, ein typisch deutscher Winter. Immerhin schneit es nicht und Glatteis gibt es auch keines. Da wir in den nebenliegenden Straßen des Köln-Mülheimer Industriegebiets keinen geeigneten Stellplatz mehr finden, parken wir zum vergünstigten „Veranstaltungstarif“ in einem großen Parkhaus unweit des Palladiums. Dort angekommen, erübrigt sich meine innere Frage, ob nicht einige Fans ihre Karten mittlerweile zurückgegeben oder das Konzert sogar ganz vergessen haben, denn alleine das längliche Foyer ist über eine halbe Stunde vor Beginn bereits rappelvoll - Sehr schön! Noch kurz die Jacken an der Garderobe abgeben, ein kühles Getränk in die Hand und los geht’s…
Russkaja:
Um 20.00 Uhr geht es endlich los… Und wie! Für den Support auf der diesjährigen „Kompass Zur Sonne“-Tournee wurden nämlich „Russkaja“ ausgewählt und wer diesen bunten Haufen positiv Verrückter kennt, der weiß einfach, dass hier in wenigen Minuten echte Stimmungsgaranten auf der Bühne stehen! Die 2005 gegründete Band aus Wien vermengt russische Traditionals und Folklore mit zahlreichen Elementen aus Reggae, Polka, Ska und Rock zu einer launigen und absolut partytauglichen Mischung, die vor allem live eine ganz besonders intensive Wirkung entfaltet, der man sich nur schwer entziehen kann. Klar, dass die Sieben rasend schnell auch über die eigenen Landesgrenzen hinaus bekannt geworden und mittlerweile selbst auf dem Summer Breeze oder Wacken Open Air beliebte Gäste sind… Und das trotz oder gerade wegen ihrer musikalischen Eigensinnigkeit, die Schlagzeuger Mario Stübler, die beiden Blechbläser Hans-Georg „H-G“ Gutternigg und Nicolo Loro Ravenni, Violinistin Lea-Sophie Fischer, Bassist Dimitrij Miller und Gitarrist Engel Mayr heuer eindrucksvoll unter Beweis stellen: Noch bevor Sänger Georgij Alexandrowitsch Makazaria hinzukommt, setzt es ein erstes Intermezzo, welches ganz deutlich zeigt, dass hier wahre Könner an ihren Instrumenten am Werk sind! Mit „Kosmopolit“, einem Stück ihres aktuellen Albums „No One Is Illegal“, und dem brandneuen „No Borders, No War“ vom bereits im Februar 2023 erscheinenden „Turbo Polka Party“ geht es gleich gewohnt energiegeladen und extrem spielfreudig zur Sache. Obwohl die gute Laune in dieser halben Stunde klar im Vordergrund stehen soll, findet die Band auch Zeit für nachdenklichere Töne, etwa wenn Makazaria seine Kollegen aus aller Herren Länder vorstellt und damit Bezug auf die schrecklichen Ereignisse in der Ukraine nimmt.
„Wir sprechen uns klar gegen den Krieg aus, denn wir haben diese Band gegründet, um Liebe und Freude unter die Leute zu bringen!“, unterstreicht der hünenhafte Frontmann und verweist anschließend auf den Verkauf des neuen T-Shirts zum eben gespielten Song, dessen gesamte Erlöse zugunsten der Kriegsopfer gespendet werden. Ein wichtiges Zeichen und eine sehr löbliche Geste, die hörbar Anklang unter den Fans findet und frenetisch bejubelt wird. Zum groovenden „Russki Style“ darf wieder ordentlich getanzt werden, das sympathisch-schrullige „Change“ regt hingegen zum Schmunzeln an. Bei der hektischen Flucht vor dem besungenen Psycho-„Traktor“ darf ein kleiner Circle Pit vor der Bühne natürlich nicht fehlen. Neben etwas mehr traditionelleren Klängen inklusive gehörig Power-Polka-Einschlag bei „Hometown Polka“ und „El Pueblo Unido“ hat man mit dem spaßigen Cover des unerschütterlichen „Wham!“-Hits „Last Christmas“ dann sogar noch eine sehr gelungene Überraschung für das textsichere Publikum in petto. Alle machen mit. Alle haben gute Laune. Vor und auf der Bühne. So muss das sein! Mit dem stimmigen „Avicii“-Tribute „Wake Me Up“, das erstaunlich gut in den folkenden Ska-Rock-Kontext passt, geht es gefühlt viel zu schnell auf die drohende Zielgerade zu, auf welcher auch das herrlich krachige „Energia“ für alle Headbanger und solche, die es noch werden wollen, zum krönenden Finale keinesfalls fehlen darf. Köln: Bestens für den Top-Act aufgewärmt. Mission: Erfüllt.
In Extremo:
Bereits wenige Minuten nach dem angesetzten Beginn um 21.00 Uhr, doch tatsächlich über zwei Jahre später als ursprünglich in 2020 im direkten Anschluss an die Veröffentlichung des neuen Studioalbums geplant, ist es an diesem Abend und in exakt dieser Stunde endlich soweit: „In Extremo“ können endlich im Palladium aufspielen. In Farbe. Ohne Distanz. Ohne Maske. Gemeinsam. Laut. Live eben. Das Kölner Publikum scheint sich genau darauf gefreut zu haben, denn die große, ehemalige Maschinenbauhalle ist der gesamten Länge nach sehr gut ausgelastet und damit fast bis auf den letzten Platz gefüllt. Lediglich im hinteren Drittel ist noch etwas Luft. Alles drängt sich jetzt dicht an dicht, auch das schnelle und dabei wirklich freundliche Personal an den seitlichen Getränketheken ist stetig mit dem Ausschank beschäftigt. Kein Wunder, immerhin hatten interessierte Fans durch die viermalige Verschiebung mehr als genug Zeit, sich ein Ticket zu sichern. Zudem ist das heutige Konzert neben dem just vergangenen, bitterkalten Open-Air-Gastspiel auf dem Lichterweihnachtsmarkt Dortmund der einzige Termin in der näheren Umgebung. Sehr schön für die Band, dass sich anscheinend nur wenige Käufer gegen eine mögliche Rückerstattung und stattdessen für das Live-Erlebnis entschieden haben! Während es im nahezu ausverkauften Palladium allmählich dunkel wird, erfüllen plötzlich das Geräusch einer sanft rauschenden Brise und helles Vogelgezwitscher den Saal. Noch wird die Bühne vollständig von einem schwarzen Vorhang verhüllt, die darauf gerichteten Scheinwerfer färben die Szenerie in ein tiefes Blau. Die Spannung steigt knisternd an und verdichtet sich. Bald darauf schweben die lieblichen Klängen der Harfe und eine wohlbekannte, choral gesummte Melodie aus den Boxen und ein Großteil des Publikums stimmt mit ein… Dann ein blitzartiger Moment der Stille. Alles verstummt. Nur etwa eine Sekunde lang, der kurze Hauch eines Augenblicks. Und mit dem metallisch rasselnden Einsatz des Schlagzeugbeckens fällt schließlich der schwere Stoff unter tosendem Jubel, rast schnell gen Boden hinab und gibt somit den uneingeschränkten Blick auf das ganze Geschehen frei: Vor dem bildgewaltigen Hintergrund der auf das malerische Backdrop gebannten Dampflokomotive, welche, stilistisch ganz an das Cover-Artwork des zu betourenden Albums „Kompass Zur Sonne“ angelehnt, in ihrer gigantischen Totalen unaufhaltsam auf das vor ihr stehende Publikum zuzurasen scheint, thront Schlagzeuger Florian „Specki T.D.“ Speckardt zentral erhöht auf einer schwarzen Stahlkonstruktion. Zu den Seiten stehen Bassist Kay „Die Lutter“ Lutter und Gitarrist Sebastian „Van Lange“ Lange, hinter dem Trio ragen vier LED-Säulen in die Höhe.
Am vorderen Bühnenrand gehen Marco „Flex der Biegsame“ Zorzytzky und André „Dr. Pymonte“ Strugala mit geschulterten Dudelsäcken musizierend aufeinander zu, treffen sich genau in der Mitte der Bühne und richten sich sodann mit Blick zum bebenden Saal. Fast schon ungesehen, betritt hinter ihnen nun auch Sänger Michael Robert „Das letzte Einhorn“ Rhein die schweren Bretter, der jedoch erst noch abwartet, bis seine zwei Kollegen wieder auseinandertreten, um daraufhin verschmitzt lächelnd und mit zum Gruß erhobener Hand in ihrer Mitte zu erscheinen und die finalen Zeilen von „Wintermärchen“ zu intonieren. Und tatsächlich ist es an diesem kühlen, spätwinterlichen Dezemberabend ein bisschen wie im Märchen, das lang herbeigesehnt endlich zur Wirklichkeit werden darf. „Lass uns hier gemeinsam wohnen und ein Lied von Zeit zu Zeit. Singen wir von dürrem Aste jenem Glanz der Ewigkeit!“, singt er mir gewohnt kraftvoller Stimme und überlässt dann wieder der Musik das alleinige Rampenlicht, denn erwähntes Stück dient in seiner stark gekürzten Version heute Abend lediglich als enorm stimmungsvoller Auftakt. Den Einstieg soll und wird hingegen ein anderer Song übernehmen, für welchen man wohl keine bessere Position hätte finden können: „Troja“. Schon allein der tiefe Bass sorgt, gefolgt vom markant röhrenden Gitarrenriff, direkt für laute Zurufe, noch mehr Jubel und erhobene Arme, die im Takt klatschen. Passend zum treibenden Rhythmus des powernden Openers, lodern im Refrain immer wieder heiße Flammenschübe am Bühnenrand und auch hinter dem Drum-Kit auf. Die wogende, singende, hüpfende und headbangende Menge ist sichtlich begeistert, das Palladium kocht gebündelt. Von Anlaufschwierigkeiten keine Spur. Niemand muss erst auftauen - So muss das sein!
„Einen wunderschönen guten Abend, Köln!“, begrüßt Rhein die Fans. „Ein Wunder, dass das überhaupt noch stattfindet… Das finden wir gut!“, lacht er. „Ja, das hier ist die letzte Show in diesem Jahr. Habt ihr Lust auf Party!? Ab geht’s!“. Natürlich lässt sich die Domstadt da nicht lange bitten und singt zum folgenden „Himmel & Hölle“ kräftig mit. Hoch über den Wolken hat Köln wahrlich nichts verloren, so dermaßen heiß, wie es im vollen Innenraum schon jetzt hergeht! Auch der vom witzelnden Sänger charmant als „besonderes Exemplar von der Insel Rügen“ vorgestellte Pymonte bekommt zum ikonischen Harfen-Solo vor dem Mega-Hit „Vollmond“ seinen wohlverdienten Applaus, dessen Refrain das Publikum natürlich ebenso gewohnt textsicher bestreitet, wie jenen des Klassikers „Spielmannsfluch“. Als dann in der letzten Strophe „der Marmorsaal zerspringt“, setzt mit einem gewaltigen Knall samt nachziehender Rauchschwaden die beeindruckende Pyrotechnik voll ein. Sehr schön, zumal der so beliebte Effekt zuletzt leider manches Mal fehlte! Daraufhin folgt die Geschichte des edlen Ritters „Herr Mannelig“, wo wieder alle Hände gefordert werden. Gassenhauer reiht sich an Gassenhauer. „In Extremo“ haben die Masse wie immer fest im Griff. „Wir sind seit Mai wieder unterwegs und haben dieses Jahr so um die fünfundvierzig Shows gespielt. Wahnsinn. Danke, dass ihr uns so lange die Treue gehalten habt. Köln, das macht jetzt schon richtig Spaß mit euch!“, freut sich Rhein aufrichtig und wendet sich dann ein paar pogenden Fans in den ersten Reihen zu. „Vertragt ihr euch da vorne, Jungs? Alles gut?“, versichert er sich, dass auch wirklich keine Keilerei vorliegt. „Ihr wollt zum nächsten Song eine Wall of Death machen? Echt!? Na dann, viel Spaß dabei!“, lacht er herzlich, denn zur hymnenhaften „Feuertaufe“, welche selbstredend wieder von wärmenden Flammen zu den kollektiven „Oho“-Chören im Refrain begleitet wird, passen nämlich weder ein Pit noch die gewünschte Wall of Death so wirklich. „Gestern Abend war schon geil, aber ihr setzt heute echt noch einen drauf!“, grinst der Frontmann erfreut.
„Ich war vorher schon ganz nervös, ich komme ja hier aus der Ecke… Ne, Spaß. Die letzten Jahre war bekanntlich viel los. Der eine hat es ganz gut verkraftet, manch andere weniger gut. Naja, ganz egal wie es auch aussieht, unser Kompass zeigt immer nur zur Sonne!“, verkündet er dann, woraufhin natürlich der hoffnungsvolle Titeltrack des aktuellen Albums folgen muss, zu dessen mitreißendem Beginn das Backdrop im Hintergrund hinunterfällt und damit ein weiteres Bild präsentiert, auf dem ein riesiger, goldener Kompass vor mit funkelndem Sternstaub besetzten Firmament zu sehen ist. Die Idee, auf jene relativ einfache, aber eben doch sehr effektive Weise für eine gewisse Abwechslung beim Bühnenbild zu sorgen, hat zwar bereits auf der „Quid Pro Quo“-Tournee erstmalig Einzug gehalten und überrascht somit nicht mehr vollends, schön anzusehen ist es aber trotzdem. Ansonsten kommt die Szenerie bis auf eingangs erwähnte Licht-Säulen diesmalig leider recht karg daher. Von den dekorativen Straßenlaternen oder sogar Video-Screens ehemaliger Konzertreisen fehlt jede Spur. Das ist mit absoluter Sicherheit auch gar nicht notwendig, denn „In Extremo“ überzeugen allein mit ihrer bloßen Live-Präsenz, der grundsympathischen Art und natürlich nicht zuletzt auch der Musik ohne visuelles Aufgebot, doch hätte man aus der dankbaren Thematik von „Kompass Zur Sonne“ optisch eigentlich mehr herausholen können. Auf der anderen Seite ist dieser Umstand insbesondere dieser Tage auch eine nicht gerade unerhebliche Kostenfrage in Sachen Anschaffung, Transport und Betrieb, sodass sich sowohl Künstler als auch Besucher glücklich schätzen können, dass Konzerte und Touren im normalen Rahmen wieder möglich sind… Oder es die entsprechende Band überhaupt noch gibt.
„Dankeschön! Kommen wir jetzt mal zu etwas anderen Sachen. Wir spielen heute zwei Stücke von diesem Thema und deren Inhalt ist, dass die Menschheit einfach nicht auslernt!“, unterstreicht Rhein hörbar wütend als Überleitung zu „Lieb Vaterland, Magst Ruhig Sein“, das leider so nahe am Puls der Zeit ist, wie seit seiner Veröffentlichung nicht mehr. Zum beängstigenden Dröhnen der alarmierenden Sirenen entzünden sich blutrote Bengalos, während Lutter und van Lange im finalen Part von ringsum rotierenden Stichflammen umgeben werden, die in alle erdenklichen Richtungen schießen. „Rasend Herz“ lockert danach wieder schnell auf und reißt mit seiner Interaktion im Dudelsack-Intermezzo samt anschließendem Pyro-Donnerschlag zielsicher aus der nachdenklich-bedrückenden Stimmung seines Vorgängers heraus. Der nächste Song aus erwähntem Doppel mit politischer Message folgt in Form des neuen „Saigon & Bagdad“. Ein wirklich starker Track des letzten Langspielers, der live jedoch bestenfalls solide zündet. Schade. Dennoch: Die klare Botschaft dahinter könnte derzeit wichtiger kaum sein! „Wie gesagt, die Menschen lernen einfach nicht dazu und wenn man nicht völlig blind durch die Welt geht, merkt man auch, was gerade so abgeht!“, schüttelt der Sänger verständnislos den Kopf und darf sich dessen sicher sein, dass die machthungrigen Kriegstreiber vermutlich auch in einhundert Jahren nicht zum Umdenken zu bewegen sind. Mit „Unsichtbar“ gibt es einen weiteren Höhepunkt im Set zu verzeichnen: Im Gitarren-Solo sprühen glühende Funken rhythmisch quer aus den Ecken hervor und gipfeln in zwei verblüffend hohen, gleißenden Fontänen, die fast bis unter das Bühnendach reichen. Immer wieder wahnsinnig spektakulär anzusehen! Im nächsten Stück geht es laut Ansage dann um „Menschen, die man zuletzt lange nicht mehr gesehen hat“. „Küss mich!“, schallt es als Song-Wunsch unter lautem Gelächter aus dem Saal. „Was? Küss mich sieht man doch, Mensch!“, frotzelt Rhein und klärt mit der emotionalen Ballade „Gaukler“ anrührend über die Seele des traditionellen Spielmanntums auf. Zum gälischen „Liam“ dürfen erneut die Arme zur Melodie geschwenkt werden, beim gesellschaftskritischen „Quid Pro Quo“ ist hingegen lautes Mitgrölen im knackigen Chorus angesagt. Auch die Leistung der langjährigen Crew wird, so wie seit jeher auf jedem einzelnen Konzert der sympathischen Sechs, traditionell nach gesonderter Aufforderung angemessen mit schallendem Applaus gewürdigt. Eine wirklich schöne Geste! Das herzzerreißende „Schenk Nochmal Ein“ setzt nochmals melancholische Akzente und bringt ein bisschen Ruhe vor dem anstehenden Sturm in die sanft wiegenden Reihen, in denen auch das ein oder andere erhobene Feuerzeug oder Handylicht zu sehen ist.
„So, wir leiten jetzt langsam die Party-Runde ein. Seid ihr bereit!? Ab dafür!“, heißt es und los geht’s mit dem Fan-Liebling „Frei Zu Sein“, der ab Sekunde Eins frenetisch gefeiert wird. Es wird gesungen, getanzt, gepogt und getrunken. Die Stimmung wird gefühlt immer ausgelassener, die gebündelte Energie im Palladium ist fantastisch. „Könnt ihr noch? Hier kommt ein Stück aus dem hohen Norden!“, ruft Rhein und schon geht es mit dem berüchtigten Freibeuter „Störtebeker“ auf große Kaperfahrt. Weiter vorne ist ein kleiner Circle Pit zu sehen. Mutig, wenn man bedenkt, wie wenig Platz die Halle zumindest der Breite nach bietet. Es scheint aber alles gut zu gehen. Die Fans sind sichtlich glücklich, die Band ist es auch. Der riesige Applaus will und will einfach nicht mehr abebben. Und schon geht es auf in die nächste Schlacht, es ist Zeit für den „Sängerkrieg“ und noch mehr Feuer. Doch auch ein anderer Wegbegleiter soll heute Abend nicht unerwähnt bleiben… Ob er nun will oder nicht. „Lauf mir jetzt ja nicht weg!“, lacht Rhein und stellt dem Publikum folglich Tour-Manager Dirk Verseck vor. „Das habe ich in all den Jahren nicht gemacht! Das ist der Erste da oben neben der Säule auf dem oberen Rang.“, deutet er in Richtung des Balkons. „Er ist schon seit siebenundzwanzig Jahren bei uns und rettet uns einfach immer wieder den Arsch!“. Ganz klar, dass das den Fans einen weiteren Jubelsturm wert ist. Mit dem Bild einer „gastronomischen Einrichtung eurer Wahl“ im Kopf, schunkelt sich Köln dann euphorisch und „Sternhagelvoll“ ins musikalische Koma, der Text sitzt. Konfetti gibt es leider keines. „So, wir spielen jetzt unser letztes Lied für heute, okay?“, kündigt der Fronter schelmisch an, was verständlicherweise nicht gerade auf viel Gegenliebe stößt. „Aha… Gerade eben wurden wir noch verehrt und jetzt werden wir angespien!“, lacht er. Was nach den zu „Oh Kölle, oh Kölle. Du bist immer noch wach…“ umgetexteten, letzten Zeilen des bald verklungenen „Moonshiner“ passiere, läge laut ihm allerdings ganz am Publikum. Dieses will natürlich unbedingt noch die ein oder andere Zugabe hören und fordert jene auch lauthals ein.
Ein kleiner Wermutstropfen sei an dieser Stelle trotz des wahnsinnig guten Konzertabends und einer wirklich hervorragend aufgelegten und sehr motivierten Band jedoch der Vollständigkeit halber erwähnt: Wirklich schade ist, dass das im Frühjahr und Sommer noch fest ins Set integrierte „Reiht Euch Ein, Ihr Lumpen“ für die zwei verschobenen Shows in Wiesbaden und Köln offenbar gestrichen worden ist. Einerseits, weil das diesjährig eigentlich zu promotende „Kompass Zur Sonne“-Album mit gerade vier(einhalb) Songs ohnehin nur erstaunlich spärlich bedacht worden ist (auch das 2021 auf der Peißnitzinsel debütierte und enorm livetaugliche „Lügenpack“ blieb auf der aktuellen Tour leider aus) und andererseits, weil mit „Poc Vecem“ und „Wind“ schon zwei grandiose Nummern nach Hälfte der Tournee weichen mussten. Ausgerechnet zwei alte Klassiker, die bis zu „Kunstraub“-Zeiten immer sehr beliebte Top-Favoriten unter den Fans waren und somit schon lange nicht mehr gespielt worden sind. Der Abwechslung zuliebe, hätten dafür stattdessen ruhig eine Handvoll weniger populäre Songs der jüngeren Generation, wie etwa „Himmel Und Hölle“ oder „Quid Pro Quo“, die seitdem aber nahezu auf allen vorherigen Touren vertreten waren, eingetauscht werden dürfen, was aber vermutlich eher meine persönliche Präferenz ist. Für die lange, durch Corona erzwungene Wartezeit hätten die zwei Nachzügler Wiesbaden und Köln das etwas längere Set durchaus verdient. Es dauert jedenfalls nicht lange und schon sind „In Extremo“ wieder zurück, ohne sich bitten zu lassen: „So, es ist ja heute der letzte Tag, an dem wir auf Reise sind. Wir hatten einen unwahrscheinlich geilen Sommer, das haben wir euch zu verdanken! Wollt ihr denn noch ein bisschen feiern? Wir spielen jetzt nämlich noch genau drei Stück und dann feiern wir…“, bedankt sich der Sänger im Namen der gesamten Band und rückversichert sich dann nochmals: „Wollt ihr wirklich richtig feiern!? Nur ihr allein könnt ein Teil des Ganzen sein!“, lautet die klare Ansage der punkig-rauen Hymne „Nur Ihr Allein“, an die sich mit „Ai Vis Lo Lop“ ein wahrer Gassenhauer der alten Schule anknüpft, zu welchem auch Rhein nach langen Jahren mal wieder zum Dudelsack greift, um Strugala und Zorzytzky zu unterstützen. „Kommt gut nachhause, kommt gut ins neue Jahr. Bleibt schön gesund und vielen Dank für diesen Abend, Dankeschön!“, lauten die letzten Worte und Wünsche seitens „In Extremo“ an ihr Publikum an diesem Abend, denn allmählich ist es leider an der Zeit, um Abschied zu nehmen… Jedoch nicht, ohne ein gebührendes Finale: „Pike Palve“. Das alt-estnische Donnergebet, welches seit 2016 den angestammten Platz des traditionellen Set-Closers „Villeman Og Magnhild“ mehr als nur würdig eingenommen hat, kündigt sich wie gewohnt durch die schabenden Klänge des Trumscheits und die gezupften Saiten der Cister an, die sich Rhein jetzt ein letztes Mal umschnallt. Zu jedem mächtigen Schlag der Drums schießen abwechselnd Feuersäulen im Takt in die Luft, daraufhin sprüht hoher Funkenregen und die kleinen Fackeln neben dem Schlagzeug entzünden sich wie von selbst. Die Dudelsack-Fraktion spielt sich gebündelt mit zunehmender Dauer in energetische Ekstase, Bass und Gitarre stimmen dann zum flammend heißen Klimax mit ein, bevor plötzlich alles mit einem lauten Knall endet. Zum mystischen Outro versammeln sich die glorreichen Sechs am Bühnenrand und verbeugen sich zum obligatorischen Abschluss-Foto lächelnd vor einem völlig verausgabten und überglücklichen Köln. So darf 2022 zu Ende gehen - Was für ein schöner Jahresabschluss!
Setlist:
01. Wintermärchen (Intro)
02. Troja
03. Himmel Und Hölle
04. Vollmond
05. Spielmannsfluch
06. Herr Mannelig
07. Feuertaufe
08. Kompass Zur Sonne
09. Lieb Vaterland, Magst Ruhig Sein
10. Rasend Herz
11. Saigon Und Bagdad
12. Unsichtbar
13. Gaukler
14. Liam
15. Quid Pro Quo
16. Schenk Noch Mal Ein
17. Frei Zu Sein
18. Störtebeker
19. Sängerkrieg
20. Sternhagelvoll
21. Moonshiner
22. Nur Ihr Allein
23. Ai Vis Lo Lop
24. Pikse Palve
Impressionen:
Ingo Buerfeind - Buerfeind.de