Goethes Erben - „Dystopische Zeitreise"-Tour - Kulturbahnhof Langendreer, Bochum - 16.02.2024
Veranstaltungsort:
Stadt: Bochum, Deutschland
Location: Kulturbahnhof Langendreer
Kapazität: ca. 600
Stehplätze: Ja
Sitzplätze: Ja
Homepage: https://bahnhof-langendreer.de/
Einleitung: Freitag, der 16.02.2024. Später Abend. Mittlerweile ist es etwa 19.00 Uhr geworden und damit viel später, als mir lieb ist. Denn eigentlich wollten meine Begleitung und ich schon längst auf dem Weg zum Bahnhof Langendreer oder am besten vor Ort sein, doch sitze ich noch immer auf der Arbeit fest. Bloß gut, dass die Event-Location in derselben Stadt liegt… Die bisherige Woche und der heutige Tag sitzen mir ordentlich in den Knochen, sodass ich irgendwie gar keine richtige Lust auf ein Konzert habe. Außerdem bin ich wahnsinnig müde und fühle mich generell ziemlich schlapp. Mimimi. Tatsächlich soll ich nur wenige Tage später eine dicke Grippe bekommen, aber jetzt schiebe ich es noch auf die anstrengende Woche. Nach einem kleinen Snack in der Pizzeria unseres Vertrauens sieht die Welt zum Glück schon wieder anders aus und so geht es im Anschluss also weiter in den entsprechenden Stadtteil, wo wir aber erst einmal einen Parkplatz finden müssen, was sich als gar nicht so leicht herausstellt. Schließlich finden wir eine freie Lücke und machen uns durch den kühlen Nieselregen schnellen Schrittes auf den Weg. Der für 19.30 Uhr angesetzte Einlass ist natürlich längst erfolgt und so können wir ohne Wartezeit direkt zur Abendkasse vorrücken. Im Vorfeld akkreditieren lassen habe ich mich jedoch nicht, da ich dieses Jahr mit meiner Homepage aus hauptberuflichen Gründen eigentlich etwas kürzer treten muss und eine zeitnahe Veröffentlichung somit nicht garantieren kann, weswegen in 2024 wohl auch ein paar Beiträge weniger als üblich erscheinen werden. Nachdem wir also unsere Tickets gekauft haben, geht es auch schon ins warme Innere. Gleich links ist die Bar und wo zur rechten Seite in den Vorjahren noch der große Merchandising-Stand aufgebaut war, ist jetzt die Garderobe, an welcher wir direkt unsere dicken Winterjacken abgeben. Die schönen Fan-Artikel gibt es dieses Mal auf der linken Seite weiter vorn, nahe der Abzweigung zu den Sanitäranlagen und Bühne. Nicht allein nur durch die beträchtliche Schlange, die sich vor diesem gebildet hat, fällt uns jetzt sofort ins Auge, dass der Saal des Bahnhof Langendreer überraschend gut gefüllt ist, was mich für die Band wirklich ausgesprochen freut. Nicht unangenehm überfüllt, aber doch sehr gut besucht. „Überraschend“ übrigens nur deswegen, weil es hier im April 2023 zur „X“-Tour noch deutlich leerer war. Wenngleich in diesen netten Räumlichkeiten zumeist leider nur wenig für mich persönlich interessante Shows stattfinden, komme ich doch immer wieder gerne hierhin zurück, und bin umso mehr froh, dass Oswald Henke dies scheinbar auch seit Jahren tut. Mein allererstes Konzert im Bahnhof Langendreer war übrigens eines des mittlerweile leider eingestellten Projekts „Henke“ und auch bei der Live-Darbietung des zweiten Solo-Werks „Maskenball Der Nackten“ im Folgejahr war ich wieder mit dabei. Besonders stark in Erinnerung geblieben ist mir dabei das sehr intime Kammerkonzert zu „Flüchtige Küsse“ unter strenger Beachtung der damals geltenden Corona-Maßnahmen und mit zuvor festgelegten Sitzplätzen in 2021. Ach, was war das schön! Also ganz bestimmt nicht die weltweite Pandemie, nein, aber dieses unwirkliche Gefühl, endlich wieder Live-Musik hören und vor allem erleben zu dürfen. Zwischenzeitlich verschlug es die Band ja auch in den Kulttempel Oberhausen, den ich ebenfalls gerne und häufig besuche, dennoch ist es definitiv ein erfreulicher Luxus, die Erben in so schöner Regelmäßigkeit in der eigenen Heimat begrüßen zu dürfen. In diesem Sinne: Herzlichen Dank für eure Besuche! Nachdem wir ein kaltes Getränk geschlürft und uns einen Platz mit guter Sicht auf das baldige Geschehen gesucht haben, entscheide ich mich dazu, doch noch eine Zigarette rauchen zu wollen. Der sich im kleinen Foyer suchend umblickende Herr mit einem Feuerzeug in der Hand hat offenbar dasselbe Ziel, wird dann jedoch mit mir gemeinsam von der freundlichen Kassen-Dame auf das Obergeschoss verwiesen, in welchem es seit geraumer Zeit wohl eine vollständig überdachte Terrasse gibt, sodass man nun keinen Stempel mehr braucht und auch nicht im Regen stehen muss. Super, denn mittlerweile schüttet es wie aus Kübeln! Über eine lange Treppe tapsen wir also ins erste Geschoss und versuchen dabei, im Halbdunkel keinen anderen Fans auf die Füße zu treten oder gar die Treppe hoch zu fallen. Oder hinunter. Oder zur Seite. Denn auch die kleine Empore über dem Innenraum ist ziemlich gut ausgelastet. Nur gut, dass die lieben Fans rücksichtsvoll und lächelnd kurz aufrücken, um uns vorbeizulassen. Also kurz an die frische Luft und dann voller Vorfreude und Spannung wieder zurück an den Platz. So langsam bekomme ich doch Lust auf ein Konzert… Musik löst eben doch (fast) alle Probleme!
The Arch:
Starteten die Bochumer Erben-Konzerte der letzten Jahre noch ganz ohne musikalische Gäste im Vorprogramm, gibt es dieses Mal hingegen einen Support-Act, der das Publikum zuvor schon einmal etwas in Stimmung bringen darf: Die aus dem belgischen Breendonk stammenden „The Arch“ sind bereits seit 1986 aktiv und haben sich musikalisch dem New und Dark Wave verschrieben. Dabei kann das Quartett, welches heute allerdings ohne Keyboarder Ian Lambert und damit nur als Trio auf der Bühne stehen wird, mittlerweile auf sieben Alben zurückblicken. Das neueste Werk namens „Sanctuary Rat“ erschien erst im vergangenen Jahr über Dryland Records, womit die Band praktisch direkte Label-Kollegen von „Goethes Erben“ sind, was vermutlich unter anderem auch ihren Slot auf der aktuellen Tour erklären dürfte. Etwa gegen 20.30 Uhr betreten also Gitarrist Mr. Pierre, Bassist Ivan „D.C.“ Moons und Sänger Gerd „C.U.V.G.“ Van Geel nur zu dritt die Bühne, um dann gleich mit dem Doppel „Clear Fields“ und „9,81“ vom aktuellen Ableger zu eröffnen. Durch den Umstand, dass „The Arch“ keinen Live-Schlagzeuger haben und die entsprechenden Drum-Patterns damit eigentlich vom Keyboard kommen, welches heute aber eben nicht besetzt ist, wirkt die Bühne anfangs noch seltsam leer und ganz so, als würde etwas fehlen. Nun ja, tut’s ja immerhin auch. Woran es jedoch definitiv nicht mangelt, sind die musikalischen Fähigkeiten und Präsenz eines bestimmten Herren dort oben auf den Brettern: Während sich die zwei ganz und gar in der Musik versunkenen Saitenspieler an den äußeren Bühnenrändern fast schon ein bisschen zu sehr zurückhalten und eher wenig bewegen, zieht der mit einer schwarzen Federboa und viel dunklem Lidstrich geschmückte Sänger hingegen schnell alle Blicke auf sich: So wird Van Geel schon bald zum unvermeidbaren Mittelpunkt des Geschehens, wenn er beständig auf- und abschreitet, viel mit der eigenen Mimik spielt oder das lange Kabel seines Mikrofons immerzu lasziv und gekonnt um sich schlingt. Der düstere Titeltrack der jüngsten Veröffentlichung, das ebenfalls davon stammende „Devil‘s Breed“ sowie „Cocks Populi“ vom direkten Vorgänger aus 2019 markieren danach schließlich das Ende der aktuellen Ära im Set, bevor man sich den älteren Stücken widmet, was einige scheinbar extra angereiste Fans sichtlich zu freuen scheint: „Babsi Ist Tot“ von der Debüt-EP „As Quiet As“ oder „Stay Lay“ und „Ribdancer“ aus den späten Achtziger- und frühen Neunzigerjahren sind bandeigene Klassiker und funktionieren live auch heute noch sehr gut. Generell wirkt der Gig wie eine kleine Zeitreise in die einstige Szene-Hochzeit des Wave. Das schummrige Licht und der leichte Nebel, in welchem die drei Akteuere so manches Mal nur als schemenhafte Silhouetten zu erkennen sind, sorgt für eine mystisch-kühle und zugleich doch wundervoll melancholische Atmosphäre, wenn sich minimalistische Elektronik mit nebulös verzerrten Gitarren und dem eindringlichen Gesang mischt. Ein herrlicher Oldschool-Spirit und doch keineswegs angestaubt. Authentische Schwarz-Romantik at it‘s finest! Das erkennt auch das Bochumer Publikum an und taut mit jedem neuen Song hörbar immer mehr auf. Das wirklich großartige „Eyes Wide Open“ vom 2016er Album „Fates“ schindet wohl den größten Eindruck und sorgt abschließend für lauten Applaus, bevor „The Arch“ sich nach knapp vierzig Minuten vom Ruhrgebiet verabschieden… Vorerst. Wer die Band in nächster Zeit einmal selbst erleben will, hat beispielsweise nämlich im September in Oberhausen beim Benefit Festival im Kulttempel oder beim zweiten Tour-Part der Erben-Torunee im Spätherbst die Gelegenheit dazu. Dringende Empfehlung!
Goethes Erben:
In etwa gegen 21.30 Uhr und damit schon zu recht fortgeschrittener Stunde wird es dann schließlich zum zweiten Mal an diesem Abend plötzlich dunkel im mittlerweile ziemlich gut gefüllten Saal des Bahnhof Langendreer. Auch die letzten Nachzügler und alle Kurzentschlossenen scheinen ihren Weg vor die Bühne gefunden zu haben: Sowohl der Großteil des untenliegenden Parketts bis ganz hinten an die Bar als auch die sich darüber befindliche, mehrmals abgestufte Empore, welche man über eine Treppe gleich hinter dem kleinen Foyer erreicht, ist fast bis auf den letzten Platz gefüllt, wie ich gerade eben erst freudig überrascht festgestellt habe, als ich nach dem Set von „The Arch“ einen kurzen Abstecher auf die komplett überdachte Raucher-Terrasse machte. Damit ist das heutige Konzert nochmals eine ganze Spur stärker besucht, als das letztjährige Gastspiel der „X“-Tour, was mich für die Band und den Veranstalter wirklich ausgesprochen freut und hoffentlich sicherstellt, dass „Goethes Erben“ meine Heimatstadt auch in den nächsten Jahren noch das ein oder andere Mal besuchen werden. Während die Bühne jetzt langsam in dunkle Blautöne gehüllt wird und sich ein bedrohlich vibrierender Bass aus den Boxen schraubt, betreten zunächst Keyboarder und Bassist Tom Rödel sowie Dome Siemers, welcher ab 2024 Tobias Schäfer als neuer Gitarrist ablöst, der seit den vergangenen Konzerten im letzten Jahr leider nicht mehr länger Teil der Live-Besetzung ist, unter viel warmen Applaus die Bretter. Ihnen folgen nur kurz darauf Schlagzeuger Markus Köstner, Cellist Benni „Cellini“ Gerlach und zuletzt natürlich auch Oswald Henke selbst. Sie alle sind schlicht-schick in Schwarz gekleidet. Eröffnet wird die „dystopische Zeitreise“, wie die Band die aktuelle Live-Retrospektive aus speziell dafür ausgesuchten Titeln anlässlich ihres fünfunddreißigjährigen Jubiläums charmant betitelt, passenderweise durch das erste, kurze Stück des gleichnamigen Debütalbums „Das Sterben Ist Ästhetisch Bunt“. „Der Wind dirigiert den Reigen, entfacht den bunten Todestanz. Kein Blut und kein Schrei wird laut. Die Luft bleibt klar. Kein süßer Duft ist wahrnehmbar. Es ist still…“, spricht Henke die Zeilen gewohnt ausdrucksstark auf seine seit jeher unnachahmliche Weise. Dem schließt sich nahtlos „Die Form“ von der 1995 erschienenen EP „Der Die Das“ an. Ein sehr gelungener Auftakt! „Guten Abend, wir sind „Goethes Erben“. Schön, dass ihr heute so zahlreich zu unserer kleinen Zeitreise gekommen seid. Mal schauen, was die Kiste so beinhaltet…“, begrüßt Oswald Henke das Publikum und klappt den Deckel einer hölzernen Box auf, in welcher sich augenscheinlich zahlreiche Requisiten befinden. „Etwas Großartiges!“, ruft ein Fan zur Belustigung in den Raum hinein. „Man weiß es nicht…“, lächelt Henke verschmitzt. „Vielleicht auch etwas Gefährliches? Beginnen wir doch mit etwas Blut!“, verkündet er und wirft sich eine schwere Uniformjacke über. Einige langjährige Hörer wissen allein deshalb schon, dass jetzt eigentlich nur „Zinnsoldaten“ folgen kann und genau so ist es auch. Ein trauriger Song, der momentan leider wieder aktueller denn je ist… Wenn er denn in der Zwischenzeit überhaupt jemals an Aktualität verloren hätte. „Dankeschön! Es ist immer wieder bezeichnend, dass alte Männer die Jugend ihres Volkes in Konflikte schicken und sie dann auf irgendwelchen Ackern zerfetzt verbluten oder verstümmelt nachhause kommen. Steine und Keulen… Seitdem haben wir nicht viel dazugelernt, nur die Uniform ist nicht mehr ganz so schick. Aber wir schauen mal, was die Kiste noch so alles beinhalten könnte.“, gibt er Denkanstoß und verschwindet dann wieder für wenige Sekunden hinter dem hohen Deckel, ehe er ein weißes Rüschenhemd daraus hervorholt.
„Märchenprinzen… Also ich habe mich damals ja dazu entschieden, diese Phase zu überspringen und stattdessen gleich König zu werden!“, feixt Henke und nachdem Bochum dem „Leben Im Niemandsland“ aus dem Jahr 1993 damit auch einen kleinen Besuch abgestattet haben, soll es musikalisch und thematisch wieder um einiges finsterer zugehen: „Danke. Das ist ja viel zu fröhlich hier und das, obwohl wir ja eine sehr düstere Band sind, habe ich mir sagen lassen…“, schmunzelt der Sänger, der nun verständlicherweise etwas aus der Puste ist, nachdem er bis gerade eben noch für einige Minuten tänzelnd im Rhythmus umhersprang. Es folgt das enorm beklemmende „5 Jahre“ vom zweiten Album „Der Traum An Die Erinnerung“, welches zuletzt 2021 im zweiten Akt der kleinen Kammerkonzert-Tournee zu „Flüchtige Küsse“ gespielt wurde. Zu diesem Anlass gastierten „Goethes Erben“ übrigens gleich an zwei aufeinanderfolgenden Abenden hier im Bahnhof Langendreer. Damals noch mit zuvor zugewiesenen Sitzplätzen und unter strenger Beachtung der geltenden Hygieneauflagen. Keine Frage, auch das waren wirklich sehr schöne Konzerte, wie mir just in diesem Moment kurz durch den Kopf schießt, doch bin ich ausgesprochen froh, seit geraumer Zeit endlich wieder mit vielen anderen Fans direkt vor der Bühne stehen zu dürfen. Verrückt, wie schnell die Jahre so vergehen… Als Nächstes befindet sich mit dem hypnotischen „Stadt Der Träume“ dann eine echte, kleine Rarität im Set! Zwar nicht von „Goethes Erben“ direkt, wohl aber von „Artwork“, dem 1990 ins Leben gerufenen Neoklassik-Projekt um Jochen Schoberth, seines Zeichens Label-Chef von Etage Music, welcher unter jenem Banner auch über die Grenzen der Szene hinaus mit einigen namhaften Künstlern kooperierte. „Durchschreite den Regenbogen, und folge mir, durch Farben in die Dunkelheit. Folge, in die Stadt der Träume. Durch Rot, Grün, Gelb, Blau, Violett. Es ist Nacht. Die Luft ist klar, alles schläft. Trotz Kälte, ist es warm. Folge mir…“, spricht Oswald Henke ruhig und nahezu beschwörend die Zeilen zu den loopenden Klängen einer fragilen Spieluhr, während die Scheinwerfer die Bühne passend dazu blitzartig in ebenjene Farben tauchen. Generell muss einmal gesagt sein, dass die beiden Herren am Ton- und Licht-Pult an diesem Abend einen ganz und gar fantastischen Job machen! Der Sound ist so gut wie immer glasklar, alles ist ohne Hall und Dröhnen zu verstehen, was bei einer Band wie „Goethes Erben“ wohl nicht wichtiger sein könnte. Absolut keine Selbstverständlichkeit! Da es, anders als bei den vorherigen Touren, dieses Mal kein thematisch angepasstes Bühnenbild mit Folien, Stacheldraht, Statuetten, verhüllten Mannequins oder gar einer großen Videoleinwand gibt, sondern einzig ein schwarzer Vorhang und einige wenige Moving Heads das Geschehen einrahmen, ist die extrem ausgeklügelte Lightshow ein umso größeres Plus für die Atmosphäre und wirklich viel wert. Der hauptsächliche Fokus liegt, und so ist es auch genau richtig, dieses Mal allein auf den Akteuren, den Worten und der Musik.
„So, das war ein kleiner Ausflug in ganz frühe Zeiten…“, sinnt Henke nach und verspricht eine kleine Abkühlung mit „Der Eissturm“. Immerhin würden die Zuschauer in den ersten Reihen ja passenderweise schon so schön glitzern, nachdem zuvor einiges an schillerndem Pulver, wie Sand in die Augen gestreut, durch den Raum geworfen wurde. „Willkommen zur „Goethes Erben“-Glitzer-Party! Wir müssen mittlerweile mit ganz viel Make-Up dafür sorgen, dass wir jugendlich aussehen. Das ist so idiotensicher, wie der Fakt, dass es einen Putin gibt, der am liebsten die ganze Welt mit Atombömbchen beglücken würde…“, bemerkt er zynisch und weiter geht es mit den zwei Klassikern „Nichts Bleibt Wie Es War“ und „Himmelgrau“. Für das nächste Stück wird die E-Gitarre seitens Siemers dann erstmals gegen eine Akustikgitarre eingetauscht. Es soll wieder ruhiger zugehen. „Na, kommst du zu mir kuscheln?“, witzelt Oswald Henke zum Neuzugang, der sich mit seinem Instrument nun neben ihn auf die Kiste setzen will. „Halt, ich habe noch etwas vergessen!“, ruft der Sänger und holt eine kleine Puppe aus dem transportablen Lager, was für einigen Jubel aus dem Publikum sorgt, das natürlich genau weiß, worauf das entsprechende Requisit, das sogenannte „Puppenkind“ vom Cover-Artwork des zugehörigen Albums, hinweist. „Sollen wir das nächste Lied spielen oder lieber überspringen? Es könnte nämlich die Stimmung drücken… Aber immerhin seid ihr ja heute auch dazu hergekommen, dass die Stimmung gedrückt wird!“, lächelt er selbstironisch. Es folgt „Vermisster Traum“, wie die beiden vorausgegangenen Titel ebenfalls von „Nichts Bleibt Wie Es War“ aus 2001. Ein damals wie auch heute wichtiges Album für die weitere Zukunft der Band, die zu jenem Zeitpunkt noch fraglich war, da die beiden Vorgänger keine zufriedenstellenden Verkaufszahlen erzielten. Den Titel konnte man dabei „als Frage an die Zukunft oder als abschließende Feststellung betrachten“, wie Henke selbst im Booklet bekanntgab. Wie gut, dass alles anders kam! Die laufende, dreitägige Mini-Tour soll zwar eine Zeitreise durch rund fünfunddreißig Erben-Jahre sein, dabei jedoch bewusst kein schnödes Best-Of, sondern ein „wichtig war und ist“, was sich eben auch darin äußert, dass nicht gerade wenige Stücke im Set noch immer oder wieder dem Zeitgeist entsprechen. Einige Hits und Klassiker, wie beispielsweise die gerade genannten, sowie aktuelle Songs dürfen und werden natürlich trotzdem nicht fehlen. Dennoch soll auch genügend Raum für kleine Perlen und Unerwartetes sein. Ein rundum gelungener Querschnitt - Schön!
Besonders freue ich mich, dass während der Konzerte von „Goethes Erben“ auch immer wieder mal kleine Abstecher zum ehemaligen Nebenprojekt „Henke“ gemacht, welches leider bereits seit einigen Jahren nicht mehr aktiv ist. Mit den beiden sehr gelungenen Studioalben „Seelenfütterung“ und „Maskenball Der Nackten“ verbinde ich persönlich viele Erinnerungen und kam darüber hinaus glücklicherweise auch in den Genuss, das Projekt insgesamt (leider nur) zwei Mal live zu sehen… Unter anderem hier im Bahnhof Langendreer. Ein „Henke“-Stück, nämlich das todtraurige „An Jedem Haar“, gibt es jetzt zu hören. So berührend und intensiv wie eh und je. „Dankeschön. Das war allerdings kein Stück von „Goethes Erben“, sondern von „Henke“. Ein Projekt mit dem ich nur ein, zwei Alben veröffentlicht habe. Ja, von Eins bis Zwei kann ich gerade noch zählen… Nun aber etwas Lebensbejahendes.“, leitet der Sänger dann zu „Lebend Lohnt Es“ vom 2005 erschienenen „Dazwischen“ über. „Danke. Die Ironie ist ja, wir befinden uns in den letzten fünf Jahren unserer Existenz…“, greift er den Faden auf und sorgt für betretene Stille, ob des relativ absehbaren Endes der Band und lobt anschließend zur Auflockerung seinen Requisitenkoffer, auf den er sich während der Lieder gerne mal zu stellen pflegt, nur um danach plötzlich wieder beherzt von ihm herabzuspringen. Zwischendurch hätte es in all den Jahren auch deutlich instabilere Varianten gegeben, die bei entsprechender Fallhöhe zu ordentlichen Schmerzen geführt hätten. „Die hier ist nicht mehr so hoch und kann auch nicht ganz so leicht kippen, wenn man darauf steht. Also nur bedingt!“, lacht er. Mit „Wer Mich Liebt“ gibt es im Anschluss gleich noch einen Song des „Henke“-Debüts, der neben dem melancholischen „Es Ist Nacht“ zu meinen Favoriten zählt - Toll! Die immer wieder skandierte Zeile des Refrains spricht dabei Bände: „Die Welt macht mich traurig, nicht ich mich selbst!“… „Ja, diese Welt kann in der Tat traurig machen!“, befindet Oswald Henke und spricht im Folgenden über die derzeit erneut aufkeimende Menschenverachtung in der Sprache einer gewissen Partei, die an eine sehr dunkle Zeit in diesem Land erinnert. „Doch betrachten wir auch einmal den Wert von Europa…“, fügt er an und weiter geht es mit „Lazarus“ von „Am Abgrund“ aus dem Jahr 2018: „Blutende Mütter und weinende Kinder. Wir schießen und heulen, wir bigotten Sünder!“, heißt es da. „Ich weiß, wie schwierig es ist, eine Partei zu wählen, nur sollte man eben nicht etwas wählen, nur um den anderen eins auszuwischen…“, gibt Henke zu bedenken und lässt „Darwins Jünger“ vom selben Album folgen. „Ich habe ehrlich keine Lust, in die Politik zu gehen. Aber wenn das alles so weitergeht, sehe ich das als notwendig an und werde König! Eine Krone und ein Zepter habe ich ja schon…“, spaßt er. Nur wenige Sekunden später ereignet sich nur unweit von mir eine kleine Kuriosität: „Ach, dann sind wir jetzt also rechts!?“, ächzt eine Dame empört zu ihrer nebenstehenden Begleitung, die ebenfalls wenig begeistert aussieht. Noch bis vor kurzem haben die beiden Gäste eifrig bei diversen Songs getanzt, jetzt dauert es nicht lange, bis sie plötzlich entrüstet den Saal verlassen… Huch.
„Als wir das Programm zusammengestellt haben, ist uns aufgefallen, dass wir zwar schon so um die fünfzehn, zwanzig alte Sachen hatten, aber noch kein einziges Lied von unserem aktuellen Album. Daher jetzt als vorletztes Stück für heute zumindest ein Song von „X“. Nämlich das Fröhlichste… Es geht um freiwillige Amputation!“, lächelt der charismatische Sänger verschmitzt. Tatsächlich ist „Xenomelie“ freilich nicht zuletzt durch seinen Text, so heißt es im kurzen Refrain beispielsweise gebetsmühlenartig „Der linke Arm muss ab!“, aber auch durch seine doomende Instrumentierung aus bohrenden Bässen und der markerschütternden Percussion, welche hier durch Siemers erfolgt, der mithilfe zweier Drumsticks minutenlang rhythmisch auf ein rostiges Stück Blech einprügelt, fraglos der düsterste Track des aktuellen Werks. Vielleicht hat der neue Gitarrist heuer ein wenig zu enthusiastisch auf den Stahl getrommelt, sind die Sticks danach doch dahin. Das Schlusslicht des Haupt-Sets und damit leider auch schon das letzte Stücke vor dem kommenden Zugaben-Teil nimmt sich dann der „amerikanischen Spezialität der Beseitigung“, nämlich dem elektrischen Stuhl, an und ist zugleich eine große Verbeugung vor Nick Cave und dessen „Mercy Seat“ von 1988: „Sitz Der Gnade“. Auch dieser Erben-Klassiker wird natürlich gebührend vom Publikum gefeiert, bevor die Band erstmalig an diesem Abend wieder die Bretter verlässt… Doch das soll es natürlich noch nicht gewesen sein! „Ihr glitzert ja alle so schön… Danke, dass ihr heute hierher gekommen seid und vor allem auch vielen Dank dafür, dass wir spielen dürfen. Wir kommen immer wieder gerne hierher!“, lächelt Oswald Henke, als die Musiker schon wenige Minuten später wieder auf die Bühne zurückkehren. Ein ganz besonderer Dank des Sängers gebührt an dieser Stelle insbesondere Norbert Kurtz, dem Leiter der legendären Bochumer Discothek Zwischenfall, für den langen Kontakt, die stete Unterstützung der Szene und einen „wilden Ritt durch fünfundzwanzig Jahre“, was selbstredend mit verdient viel Applaus bedacht wird. Viele Fans würden mittlerweile Kinder großziehen oder auf die Enkel aufpassen, am Abend zuvor in Waregem hätten einige sogar schon ihren Nachwuchs zum Konzert mitgebracht, wie Henke berichtet. So bestünde immerhin die Hoffnung, dass diese noch die verbleibenden fünf Jahre von „Goethes Erben“ mitbekämen. Mit dem finsteren „Verstümmelung“, einem weiteren Song von „Am Abgrund“, und „Das Ende“ aus „Der Traum An Die Erinnerung“ von 1992 geht es weiter. „Wir waren für euch heute Abend „Goethes Erben“… Wir hoffen, ihr hattet ein bisschen Spaß? Wir hatten auf jeden Fall Spaß!“, verbeugt sich der Frontmann und stellt anschließend alle Mitglieder der Live-Besetzung vor.
„Wir müssen aber nicht weitermachen, wenn ihr schon müde seid und lieber nachhause gehen wollt… Wir sind ja noch jung und agil, ich könnte jetzt noch fünf Stunden so weitermachen!“, lacht er witzelnd. Da das Kammer-Ensemble vorübergehend nicht mehr existiere, man mit Benni „Cellini“ Gerlach nun aber einen sehr fähigen Cellisten in der Live-Besetzung hat, der auch schon auf der entsprechenden Konzertreise die Bretter mit den Erben teilte, habe Henke einen Song-Wunsch vom 2020 erschienenen Album „Flüchtige Küsse“ geäußert, welchen es nun im neuen Arrangement zu hören gibt: „Seelenschatten“. Da Tom Rödel, der die Position von Keyboarder Tobias Schäfer nach dessen Ausscheiden auf dieser Tour nun zusätzlich zum Bass übernehmen muss, laut Henke doch eigentlich aber so gerne Gitarre spielt, darf er beim nächsten Stück wieder voll in die Saiten greifen. Der knifflige Deal: Wenn er beide Instrumente gleichzeitig spielen könne, spräche nichts dagegen… Und so groß diese Herausforderung auch sein mag, meistert Rödel das duale Spiel zu „Mensch Sein“ ganz hervorragend und erntet dafür anschließend wohlverdienten Beifall. Auf den Wunsch eines Fans im Publikum, der laut „Ephigenie“ fordert, heißt es, dass dies doch vielleicht ein Kandidat für die zweite Tour-Hälfte im Spätherbst sei, wenn es für die Band dann nach Trier, Rüsselsheim, Krefeld und Berlin geht. Stattdessen möchte man jetzt einen Song darbieten, welcher neben der Tour zum Album nur selten bis gar nicht mehr gespielt worden ist, wobei dieser doch so ein wunderschönes Stück sei. Oswald Henke behält Recht, denn der introvertierte Titeltrack des 2018 erschienenen Albums „Am Abgrund“ ist wahrlich eine Perle, die zu berühren weiß und es mehr als wert ist, viel öfter gespielt zu werden! „So, jetzt sind wir aber wirklich am Ende angekommen, damit die Gäste morgen auch noch etwas von uns haben. Wir haben alles gegeben, das habt ihr verdient… Dankeschön!“, lächelt Oswald Henke dankbar und gesellt sich danach tuschelnd zu den übrigen Mitgliedern. Kurzerhand fällt nun scheinbar die Entscheidung, doch noch ein letztes Lied zu spielen! „Zum Abschied ganz am Ende ein bittersüßes Schlaflied…“, kündigt der Sänger an, woraufhin „Medea“ von „Maskenball Der Nackten“ den Abend nach über zwei Stunden Zeitreise endgültig beschließt. Bis hoffentlich ganz bald wieder in Bochum, liebe Erben!
Setlist:
01. Das Sterben Ist Ästhetisch Bunt
02. Die Form
03. Zinnsoldat
04. Märchenprinzen
05. 5 Jahre
06. Stadt Der Träume („Artwork“ Cover)
07. Der Eissturm
08. Nichts Bleibt Wie Es War
09. Himmelgrau
10. Vermisster Traum
11. An Jedem Haar („Henke“ Cover)
12. Lebend Lohnt Es
13. Wer Mich Liebt („Henke“ Cover)
14. Lazarus
15. Darwins Jünger
16. Xenomelie
17. Sitz Der Gnade
18. Verstümmelung
19. Das Ende
20. Seelenschatten
21. Mensch Sein
22. Am Abgrund
23. Medea Impressionen:
Wolfgang Hesse - Rezianer.de
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