Einstürzende Neubauten - Alles In Allem (2020)
Genre: Alternative
Release: 15.05.2020
Label: Potomak (Indigo)
Spielzeit: 45 Minuten
Pressetext:
Nach über zwölf Jahren erscheint nun endlich das lang ersehnte neue Studioalbum der Band „Einstürzende Neubauten“ - „Alles In Allem“. Das Album markiert die Quintessenz ihres Schaffens und es öffnet sich wieder eine unerwartete Tür der mittlerweile vierzig Jahre dauernden Klangexperimente des Forschungsteams um Blixa Bargeld. Wie kaum eine andere Band haben sie es geschafft einen eigenen musikalischen Kosmos zu erschaffen, ja sogar ein eigenes Genre zu kreieren, das sowohl klangliche Härte als auch ausgefeilte Poesie auf einzigartige Weise vereint. Passenderweise im Jahr der Ratte, gemäß chinesischem Horoskop dem Symbol für Einfallsreichtum und Vielseitigkeit, ruht sich die Band nicht auf dem nunmehr vier Dekaden umfassenden Werk aus, sondern agiert zukunftsgewandt und erforscht weiterhin neugierig und mit grenzenloser Spielfreude alles, was das Klang-Universum hergibt. In den einzigartigen Klang- und Textlandschaften der 1980 in Berlin gegründeten Gruppe offenbart sich so jene Zeitlosigkeit, die sich Blixa Bargeld, N.U. Unruh, Alexander Hacke, Jochen Arbeit und Rudi Moser stets erhalten haben: Durch ihre experimentellen Herangehensweisen an das Songwriting, die in vier Jahrzehnten entwickelten Instrumente und das kollektive Arbeiten klingt die Band in ihrer eigenen Zeitrechnung auffallend gegenwärtig. Ja, die Einstürzenden Neubauten scheinen mit ihrer einzigartigen Musik stets äußerst präzise im jeweiligen Jetzt zu walten, ob im Industrial der Frühphase, den treibenden 90er-Jahren oder dem bedachten Spätwerk. Die Verse „Wir hatten tausend Ideen / Und alle waren gut“ aus dem Albumtrack „Am Landwehrkanal“ könnten durchaus eine Selbstbeschreibung der Band sein. So ist eine besondere Platte entstanden: „Alles In Allem“ das erste reguläre Studioalbum von „Einstürzende Neubauten“ seit 12 Jahren, zeigt eine unvergleichbare Band, die ihre eigene Kategorie bildet, ihr eigenes Genre stiftet.
Kritik:
„Wir werden auf der Dachterasse warten
Abholung garantiert
Unsere Tochter wird hier wohnen
Gut mit, gut ohne uns
Was immer sie an Neuem findet, was sie herbringt
Um Himmelswillen keinen Gott“
Ein helles Schaben ist zu vernehmen, wie es irgendwo in scheinbar weiter Entfernung ganz leise kreiselnd um die eigene Achse rotiert. Erst nur ganz langsam, doch schon bald immer schneller und eindringlicher. Es knistert, knarzt und knackt. Ein Rohr oder etwas ähnliches schlägt zurückhaltend auf Widerstand. Vielleicht ja ein Blech, welches nun kurzzeitig schwingende Wellen schlägt? Nervös aufblitzende Streicher drängen sich lauernd in den Vordergrund und zerren jetzt bewusst an der einstigen Stille. Auf hohlen Tonnen und anderen Behältern wird der zügig fordernde Rhythmus dazu geklopft. Metall schlägt auf Metall ein. Erst etwas zurückhaltend, doch zwischendrin dann lauter. „Übervaterlandverräter und Mutterkornblumenblau. Hier kommen die Wüstentöchter und Schlangensöhne. Meine Familie, haargenau. Sie kommen von den Dächern und sie kommen von unten heraus...“, beschwört Christian „Blixa Bargeld“ Emmerich den gewohnt vertrackten Text auf seine unnachahmliche Art und bettet die markante Stimme ruhig, doch dabei nicht minder eindringlich in die Zeilen der ersten Strophe ein. „In Berlin, Berlin, Berlin...“, dringt plötzlich das stark leiernde Sample einer aufgeregt klingenden Frauenstimme hinterher. Jenes entstammt einem alten Touareg-Lullaby von 1947 aus dem Musée de l’Homme in Paris, auf welches Bargeld bei seinen vielen Recherchen in wissenschaftlichen Datenbanken stieß, nachdem ihm im Studio die Stichworte „Wissenschaft“, „Sample“ und „Anrufe“ zugewiesen wurden. An dieser doch recht ungewöhnlichen Herangehensweise der ohnehin etwas amorph anmutenden Song-Struktur trägt, wie schon so oft in der Vergangenheit, unter anderem das innovative Konzept des sogenannten Navigationssystems namens „Dave“ seinen erheblichen Anteil. Ein Fundus aus rund sechshundert Karten mit verschiedenen Begriffen, die im kreativen Prozess von den einzelnen Bandmitgliedern zufallsbasiert zum weiteren Arbeiten gezogen werden, um Stagnation zu vermeiden. Eine weiteres Verfahren ist „Harvest“, die Ernte. Hierbei lassen sich die Musiker von Bekannten, Freunden und ihren Unterstützern der seit 2002 regelmäßig durchgeführten Crowdfunding-Kampagnen inspirieren. So auch dieses Mal, als zwanzig Supporter ausgelost und mit der spontanen Frage angerufen wurden, was als letztes zu ihnen gesagt worden sei oder welches erinnerungswürdige Wort aus einem fremden Dialog ihnen ganz besonders im Gedächtnis geblieben wäre... Wie beispielsweise auch die titelgebende Figur, die eigentlich eine Arbeitskollegin eines Angerufenen ist oder besser gesagt die lyrische Verarbeitung ihres Spitznamens. So entstanden weite Teile der aktuellen Opener-Lyrics, die Bargeld dann noch mit eigenen Einfällen anreicherte, wodurch das vorerst verwirrende Bild in einen neuen Kontext gerückt wird. Eine viel mehr differenzierte, denn reflektierte Beschreibung des Zustands der Hauptstadt, deren verschiedene Einflüsse hier merkwürdig greifbar werden zu scheinen und simultan dazu doch nicht konfuser erscheinen könnten. Unterschiedlichste Kulturen, Ansichten, Gedanken und Leben. Lose Gesprächsfetzen überall, geschäftiges Treiben auf den vollen Straßen. All das prallt aufeinander, zieht sich an und stößt sich wieder ab, vermischt sich unbemerkt und wird wie ein ganz eigener Organismus eins miteinander, was auch durch die fließend wechselnde Sprache im Text symbolisiert wird: Deutsch, Englisch und sogar Tagalog. Ein Keyboard spielt ein paar lose Töne, dann herrscht für kurze Zeit etwas Stille. Hier kommt „Ten Grand Goldie“! Im Refrain steigt der Nachdruck der Percussion dann wieder deutlich und treibt weiter voran. Ohne Gnade, ohne Rücksicht. Und doch nicht planlos, sondern strukturiert und pointiert. „Wo man denkt, es wäre gut, ist es vielleicht nicht so. Und wo es gut nicht sein sollte, ist es vielleicht doch so!“, heißt es. Im finalen Part wird die starke Hymnenhaftigkeit durch eine Trompete zusätzlich gesteigert. Spätestens jetzt groovt der Song trotz aller dadaistischen Abstraktion ungemein und geht schnell in Fleisch und Blut über. Eine zeitgemäße und vor allem frische Hommage, eine durchweg glaubhaft aktuelle Reinkarnation an die eigene Industrial-Referenz. An jenes Genre, welches man vor rund vierzig Jahren selbst aus der Taufe hob. „See you in the aftermath!“. Ganz anders dann das nächste Stück, das eingangs von hell klickenden Klanghölzern und einem harmonischen Bass eingeleitet wird, die spezielle Atmosphäre „Am Landwehrkanal“ zu beschreiben, wobei sich die subjektive Wahrnehmung des Sängers schnell mit der historischen Vergangenheit Berlins vermischt. So singt Bargeld mit versteckt injizierter Idylle vom langsam fließenden, behäbigen, trüben Gewässer zwischen Spree und Oder. Es sei dort „nicht allzu tief“, heißt es, was nur kurz darauf fast schon beiläufig zu „nur einen Menschen tief“ umgetextet wird. Was genau damit gemeint ist, bleibt dem Hörer zunächst verborgen, denn der mehrstimmig arrangierte Gesang und das schwelgerische Akkordeon servieren jetzt konträr dazu eine selige Folk-Weise irgendwo zwischen Volksmusik- und Postpunk-Attitüde, zwischen Nachdenklichkeit und fröhlich beschwingter Reflexion. Erst die zweite Strophe wird annähernd konkreter, wenn auch nur vergleichsweise kurz angerissen. So künden hier nur wenige Zeilen als Randnotiz von der im Januar 1919 seitens der Wilmersdorfer Bürgerwehr ins Eden-Hotel gebrachten Rosa Luxemburg, die anschließend unter dem Deckmantel einer „Hinrichtung in nationalem Interesse“ ermordet und bei Mitternacht von der Lichtensteinbrücke ins Gewässer geworfen wurde. Bargeld sei bei alledem nicht dabei gewesen, singt er. Dafür berichtet er aus den stürmischen Anfangstagen der Neubauten und von tausend guten Ideen unter dem dunklen Himmel der Hauptstadt. Sehr persönlich und überraschend wenig verklausuliert. Dezente Wave-Anleihen aus sanft gehauchten und dunkel wabernden Keyboard-Flächen erschaffen eine nachdenkliche, in sich gekehrte Stimmung. Aus dem Hintergrund schimmert derweil eine nebulöse Gitarre zurückhaltend durch, niemals zu überbordend: „Möbliertes Lied“ verfolgt den innovativen Ansatz, das Arrangement einer neuen Komposition mit der Kernsanierung und dem anschließenden (Neu-)Bau eines wohnlichen Eigenheims gleichzusetzen. Bargeld singt, er habe das Lied „frisch renoviert“, dessen „Wände verputzt“ und einen „neuen Ton ausprobiert“. Er habe die „Strophen abgezogen“ und dann einen „Durchbruch nach draußen geschlagen“, um so eine Öffnung ins Freie zu initiieren. Die „verbrauchten Metaphern“ seien längst im Giftmüll entsorgt worden, mit Unbenutzten sei aber „ausreichend vorgesorgt“. Intensive Klangforschung, die stete Suche nach dem Neuen in der Musik, als sicheres Zuhause für frische Klänge, lebendige Kunst und nicht zuletzt auch für sich selbst, Gefühle und Gedanken, Geist und Seele. Oder gleichwohl für die eigene Familie, welcher mit jedem kreativen Heiligtum sowohl ein geschützter Raum als auch die garantierte Abholung von der fiktiven Dachterrasse versprochen wird. Außerdem ist hier auch zum ersten und einzigen Mal auf dem neuen Album der sogenannte „Aircake“ zu hören. Ein Plattenspieler, auf dem eine Art Kuchen aus Styropor, Dosen und Flaschen montiert ist, um mit Zuhilfenahme eines Luftkompressors den Windhauch simulieren zu können. Sehr schön!
Das helle, metallische Klingen und Klirren vereinzelter Rohre ist jetzt zu vernehmen. Plötzlich heulen die Maschinen auf. Laut, wie eine alarmierende Sirene. Ein entferntes Schleifen über kalten Stahl. Stille. „Wir leben hier nicht mehr... Schon lange, schon lange nicht Es sind noch Sachen von uns da...“, spricht Bargeld klar fokussiert, geheimnisvoll und merkwürdig entrückt zugleich. Unterdessen sendet ein vibrierendes Blech hintergründig seine Wellen aus, die daraufhin dominanter werden, bis grober Lärm unweigerlich aufschreckt. Vielleicht ein Presslufthammer? Das tiefe, schürfende Sägen eines Winkelschleifers? Übermächtiger Krach in fast unerträglicher Lautstärke. Immer mehr und mehr. Die rotierenden Turbinen entblößen ihre geisterhaften Gesänge, fremdartig und doch so vertraut. Dann wieder eine kurze Pause. Stille. Frieden. Keine Frage, „Zivilisatorisches Missgeschick“ ist ein eindeutiger Fingerzeig zu den neubauten‘schen Avantgarde-Wurzeln, erinnert beispielsweise entfernt an „Schmerzen Hören“, „Seele Brennt“ oder „Unvollständigkeit“. Experimentell, ungeschliffen, gnadenlos brutal, dadurch jedoch nicht weniger intensiv und eindringlich. Im absoluten Gegenteil. Das unmenschlich verzerrte, dämonische Flüstern und Schreien des Sängers fährt aufs Bedrohlichste zielgerichtet in Mark und Bein, während die minimalistisch fiependen Keyboard-Sounds drückend pulsieren und diesen fiebrigen Albtraum-Trip mit abermals schwingenden Blechen ausklingen lassen... Ein dumpf aufschlagendes Geräusch. Nur schwer zu definieren. Dann gleich nochmal. Schwer. Stoisch. Vereinnahmend. Irgendwie rhythmisch. Die Percussion ist in diesem Lied nicht nur bloßer Taktgeber, sondern zudem gleich als thematisches Kernelement zu begreifen, entsteht sie doch durch die titelgebenden und mit schweren Lumpen gefüllten „Taschen“, die jetzt unter der zusätzlichen Begleitung eines bittersüßen Glockenspiels den traurigen Marsch des Wellengangs klopfen. Fast so, wie ein Puls. Ein kollektiver Herzschlag. Zusammen. Vereint. Und in den schier endlosen Weiten der unbekannten Leere dennoch allein. „Was wir in deinen Träumen suchen? Wir suchen nichts. Wir warten.“, singt Bargeld und zitiert mit dem „gefräßigen Ungetüm“ den palästinensischen Autoren Ghayath Almadhoun, der 2008 selbst von Syrien nach Schweden floh und zehn Jahre später „Ein Raubtier namens Mittelmeer“ veröffentlichte. Ein Gedichtband, der die Flucht der Opfer über eben jenes beschreibt. Von Schmerz, Zerstörung und Krieg, Heimweh und Hoffnung, aber auch dem Ertrinken vor den Grenzen Europas. „Da wo wir landen, wenn wir landen. Land gewinnen. Allein, zu zweit, zu vielen. Wie erwartet. Wieder warten.“, lauten die von zauberhaft sanften, exotischen Streichern untermalten Zeilen, welche die verzweifelt trauernde, aussichtslose Stimmung der Flüchtenden in dieser rührenden Ballade perfekt zu transportieren wissen. Am Ende verbleiben nur wenige letzte Worte, die sich dafür umso eindringlicher einbrennen: „Was wir in deinen Träumen suchen? Wir suchen nichts. Wir warten. Wir warten. Irgendwo müssen wir ja warten...“. Eine verführerisch groovende Gitarre bietet danach die süßlich beschwingte, lässig verruchte Melodie zu „Seven Screws“, unter welche sich später noch die kleinen, fein perlenden Bruchstücke einer Harfe und sehnsüchtiges Cello mischen werden. „Sieben Schrauben halten mich zusammen. Sieben Schrauben. Sieben Schrauben.“, umschreibt der anfangs noch sehr kryptische Text. Weiterhin singt Bargeld vom starken Mann in einem Kleid, es sei ein Geschenk von ihm und brenne sich tief in die Haut. Erst die Zeile „Ich gehe rückwärts in meinen eigenen Spuren“ gibt einen angedeuteten Aufschluss über Weiteres. Es ist die Reise zurück zum Ursprung. Die Suche nach geschlechtlicher Identität, die Bewusstwerdung über das eigene Ich und den langen Weg dort hin: „Sieben Schrauben. Eines Tages ziehe ich sie heraus. Ordne meine Fragmente. Nehme mich zusammen und mische das Alphabet. Ziehe aus dem Ozean der Möglichkeiten ein neues Ich. Uneindeutig. Für immer neu.“. Dem sehr vielseitig interpretierbaren Titeltrack haftet unterdessen eine dunkel-melancholische Note an, die hauptsächlich im sehnsüchtigen Harmonium begründet ist, welches die ruhige Melodie nach einem rund einminütigen Intro weitestgehend allein trägt. „Ein Fluss mit fünf, sechs Inseln. Eine ist schon festgewachsen, sperrt ihren Rachen auf. Ein Schwätzer versucht dem Felsen etwas einzureden, der es versucht, aber doch nicht flüchten kann.“, singt Bargeld in schwelgerischer Manier und wirft bei oberflächlicher Betrachtung mehr Fragen damit auf, als er klare Aussagen oder gar Antworten gibt. Später ist etwa noch von einem „trickreichen Schattenspieler“ die Rede, der mit seinen beiden Händen zwei Marionetten führt: „Gut und Nicht-so-gut“. Von einem „verkürzten Krokodil“, einer „Plasmazelle ohne Zellkern“ oder einem „Lichtfraß“. Keine Frage: Der Text gehört fraglos zu den lyrisch stärksten Darbietungen auf dem neuen Album. Bargeld gelingt es mit seinen einzigartigen Wortfindungen nämlich nicht nur, den Hörer zum bewussten Lesen zwischen den Zeilen zu bewegen, sondern auch dazu, den eigentlichen Sinngehalt selbst schon dann annähernd erfassen zu können, wenn dieser ihn noch gar nicht dechiffriert hat. Es sind die mit ungemein viel Sorgfalt gewählten Formulierungen, die hier enorm ausdrucksstarke Bilder in individuell verstandene Fantasien zeichnen und so das passgenaue Gefühl vermitteln, das schlussendlich zur endgültigen Aufschlüsselung anleitet... „Ins Abseits, vorwärtsgewandt“. Die musikalische Untermalung verbleibt stilsicher reduziert, an die dezent eingesetzte Percussion schmiegen sich ein unterschwelliger Bass und die zart verwobenen Akkorde der Gitarre. „Alles In Allem“ kommt merkwürdig beruhigend, warm und klarsichtig, ja, fast meditativ und behaglich als eine Art tröstende Gewissheit daher. Dabei ist der augenscheinlich simple Titel nicht als eine autobiographisch resümierende Bestandsaufnahme à la „summa summarum“ zu verstehen, sondern viel mehr als ein „alles IST in allem“. Die Endlich- und Gegenwärtigkeit der Gegensätze in sich vereint. Der eigenständig arbeitende Organismus des Lebens, denn „In der Unendlichkeit bin ich auch unendlich oft vorhanden...“.
Berlin Schöneberg, Süden: „Grazer Damm“ ist ein schwerfälliger Blues und wird instrumental ausschließlich von zurückhaltend pulsierender Percussion und einer bruchstückhaft angedeuteten Gitarre begleitet. Lyrisch bedient man sich hier indes wieder einer erzählerisch strukturierten Perspektive, anstelle kryptisch verflochtener Passagen und wird stattdessen nun einmal mehr direkt und vor allem überraschend persönlich. Bargeld schildert vergangene Ereignisse aus seiner Kindheit und Jugend, erzählt von Kachelöfen, einer „Waschküche unter'm Dach“ und Luftschutzkellern in allen Häusern, nutzt allerdings keine wortgewaltig verdrehte Bildsprache dazu. Er beschreibt eine zunächst gewöhnlich wirkende Szenerie, wie er gemeinsam mit seinem Bruder aus der Wohnung zur gegenüberliegenden Straße blickt, wo einige Leute in Kostümen lärmen. Er sei darüber verärgert, weil das ganze unter dem Fenster seiner kleinen, schlafenden Schwester passiere und in einem Polizeieinsatz münde. Die Situation gewinnt erst dann an suspekter Befremdlichkeit, als ein Mann vom Dach hinunter fällt und auf dem Weg aufschlägt, wie ein „Fallschirmspringer in voller Astronautenmontur“. Teilweise Realität und naheliegende Traumsequenz verschwimmen erst recht, als ihm dann weitere Personen folgen, ebenfalls stürzen und sich anschließend wieder vom Boden abheben, als wollten sie endlich unten ankommen... Vergänglichkeit. Diverse Aufnahmen aus bruchstückhaften Umgebungsgeräuschen reihen sich aneinander und leiten anschließend „Wedding“ ein. Ein Zug brettert klackend über die schweren Gleise, bremst und fährt dann wieder an. Einige Autos hupen irgendwo in der Ferne und fahren haarscharf am Mikrofon vorbei, bis der prägnante Bass und sanfte Percussion auf metallenem Untergrund einsetzt. „Von Mitte aus nach Norden, vom Osten in den Westen.“, beginnt Bargeld seine Wegbeschreibung, abermals von einer herannahenden Bahn untermauert. „Wedding, Wedding, Wedding. Dann achtundvierzig Stufen. Wedding, -ding, -ding. Bis auf siebzig Meter über Normalnull.“, setzt er fort. Minimalistische Keyboard-Sprengsel mischen sich derweil unter, wobei jetzt insbesondre das dominant akzentuierte Schlagzeug immer mehr in den Fokus rückt und zusammen mit einigen Glockenschlägen stilsicher elegante Jazz-Vibes aufkommen lässt, während Bargeld den titelgebenden Ortsteil in verschieden betonten Variationen nun stetig in Dauerschleife wiederholt, ohne dass es auch nur annähernd störend ins Gewicht fallen würde. Im Gegenteil, die ungewöhnliche Interpretation passt exakt ins leichtherzig tänzelnde Konstrukt... Wieder ist es jetzt der Bass, der eingangs wenige Akkorde verliert. Doch ist sein Klang nicht allein und wird von symphonischen Harmonien ungleich zauberhaft untermalt. „Da wo die Nacht am flachsten und voller Türen ist. Da komme ich abhanden. Zwischen den Säulen. Ein Gang, die Vorhalle...“, wird die Umgebung bildlich und dadurch greifbar beschrieben. Es ist von „Blättern auf dem bunten Marmorboden“ die Rede, die der Wind dort hineingeweht hat. Die himmlischen Streicher versprühen sanfte Melancholie, die sich fortan mehr und mehr verfestigt. Eine süßlich klingende, märchenhafte Harfe blitzt dazwischen auf. Die Instrumentierung verliert sich hier nicht in übersättigtem Bombast, sondern trägt die jeweiligen Zeilen behutsam mit. Eine musikalische Grundlage, die das Gesagte gar nicht erst überschatten, sondern als melancholischer Walzer lediglich stimmungsvoll stützen will... Das letzte Ziel unserer langen Reise: „Tempelhof“. „Stufen nach unten. Die Schalterhalle, unbesetzt. Hier wird nicht abgefertigt, kein Ballast aufgegeben. Ohne Kontrolle durch die nächste Tür.“, führt der Sänger über das stillgelegte Gelände des Flughafens. „Die Nischen lange leer. Vögel nisten. Es wachsen Salvia und Bohnenkraut.“, heißt es. Die Umwelt erobert sich ihr ehemaliges Territorium langsam zurück. Natur gegen Architektur. Die Schnittstelle zwischen Vergangenheit und Gegenwärtigkeit. Ja, vielleicht auch Zukunft? In jedem Fall zu 100% Berlin. Und so bleiben abschließend noch letzte Worte, welche den lebendigen Prozess aus einem „Damals“ und „Heute“ wohl nicht besser zusammenfassen könnte: „Hier komme ich abhanden...“.
Tracklist:
01. Ten Grand Goldie
02. Am Landwehrkanal
03. Möbliertes Lied
04. Zivilisatorisches Missgeschick
05. Taschen
06. Seven Screws
07. Alles In Allem
08. Grazer Damm
09. Wedding
10. Tempelhof
Fazit:
Nach der anno 2014 von der Region Flandern zur Veranstaltungsreihe „100 Jahre Erster Weltkrieg in der belgischen Stadt Diksmuide“ erbetenen Auftragsarbeit „Lament“ sind nunmehr ganze sechs Jahre ins Land gezogen. Zwischen der aktuell vorliegenden Veröffentlichung und dem letzten, regulären Studioalbum des umtriebigen Kreativ-Kollektivs rund um Christian „Blixa Bargeld“ Emmerich liegen mittlerweile sogar insgesamt zwölf Jahre. Zu ihrem vierzigsten Band-Jubiläum fügen die legendären Kultur-Pioniere „Einstürzende Neubauten“ ihrer umfassenden Diskographie mit „Alles In Allem“ ein vollkommen neues Werk hinzu, dessen zehn Stücke einen rundum facettenreichen Spaziergang durch ihre Heimat Berlin irgendwo zwischen Traum, Realität, Vergangenheit, Gegenwart und eventueller Zukunft ermöglichen. So bietet die vielschichtige Erkundung des oftmals so lebhaft-chaotischen, manchmal jedoch auch unverhofft ruhigen Gewirrs der niemals schlafenden, geschichtsträchtig pulsierenden Hauptstadt den idealen Nährboden für die nur allzu gern exzentrisch verschachtelte, zuweilen überraschend nachvollziehbare und dann doch wieder unverwechselbar kryptische Poesie, wenn der gebürtige West-Berliner die interessierte Hörerschaft wie ein ausgefallener Reiseführer und gleichzeitig geisterhaft beobachtender Erzähler an den typischen Hotspots vorbei und stattdessen zu abgelegenen oder gar unbeachteten Teilen der Metropole lotst. Dort tummeln sich keine Touristen und auch offensichtliche Sehenswürdigkeiten reihen sich nicht strikt aneinander, wohl aber ganz persönliche Erinnerungen und Betrachtungsweisen. Es ist die differenziert entrückte Verarbeitung verschiedenster Fragmente, wenngleich es die initialzündende, zynische Quasi-Abrechnung der örtlichen Entwicklung namens „Welcome To Berlin“ gar nicht erst auf das eigentliche Hauptwerk geschafft hat. Keine Frage, die aufrüttelnde Sturm-und-Drang-Phase zu Zeiten von „Kollaps“, „Halber Mensch“ oder „Haus Der Lüge“ ist schon lange vorbei, geblieben sind die wegweisend experimentellen Klang-Collagen aus der mit scheinbarer Selbstverständlichkeit geschehenden Grenzgänger-Forschung und wie zufällig anmutenden, doch dabei niemals wirklich dem Zufall überlassenen, choreografierte Krach-Obsession. Nur dringt der aufstachelnde Lärm nun vornehmlich aus dem innewohnenden Kern heraus, hat sich täuschend im nicht selten doppelbödigen Inhalt selbst versteckt. Sich logisch erbauend und fortführend, niemals zum spröde inszenierten Selbstzweck destruktiv angelegt. Das waren die Neubauten nie, viel mehr beeindruckend geschaffene Struktur im wilden Getöse. „Alles In Allem“, die Summe ihrer Teile. Oft lautes und nicht weniger leises Geräusch um der zielführenden Gesamtheit Willen. So auch noch immer im Hier und Jetzt: Musikalisch sorgsam gefiltert, erinnert hier vieles an die zweite Hälfte des Bestehens mit „Perpetuum Mobile“, „Alles Wieder Offen“ und „Grundstück“. Weitaus gemäßigter, kompakt, etwas greifbarer und nicht selten viel zugänglicher. Der wahre Teufel steckt wie bereits erwähnt im Detail. Das genaue und allen voran gezielte Hinhören, Entdecken und Interpretieren lohnt allemal, wenn Rudolf Moser, N. U. Unruh, Alexander Hacke, Jochen Arbeit und Blixa Bargeld frei von jeglichen rückwärtsgewandten Selbstzitaten oder müßiger Reproduktion abermals eigenständig neue Horizonte eröffnen und den Hörer so melancholisch beschwingt, wie glasklar reflektiert zum „abhanden kommen“ in ihre ganz eigene Welt einladen. Eine, die sich dennoch niemals fremd, sondern stattdessen jederzeit merkwürdig vertraut und nachvollziehbar anfühlt. Klingt das alles also nach einem (wohlverdienten) Abschied nach über vierzig Jahren des Bestehens? Mitnichten. Es klingt ganz so, als hätte es gerade erst angefangen...
Informationen:
https://neubauten.org/de
https://www.facebook.com/EinstuerzendeNeubauten/