Depeche Mode - „Global Spirit"-Tour - Veltins Arena, Gelsenkirchen - 04.07.2017
Veranstaltungsort:
Stadt: Gelsenkirchen, Deutschland
Location: Veltins Arena
Kapazität: ca. 60.000
Stehplätze: Ja
Sitzplätze: Ja
Homepage: http://www.veltins-arena.de
Einleitung:
"Mit der Tasche da werden sie aber gleich wahrscheinlich ziemliche Schwierigkeiten bekommen!". "Bitte?", ich fahre irritierten Blickes herum und suche die Quelle der gerade eben verklungenen, doch recht harschen Aussage. "Ich sagte, mit der Tasche werden die gleich Schwierigkeiten haben...", schaut mich ein Abgesandter der zahlreich auf dem langen Pfad zur Lokalität positionierten Sicherheitskräfte streng an. Verwundert prüfe die kleine Umhängetasche, die von meiner rechten Schulter herunterbaumelt. "Ich habe mich doch an die vorgegebenen Maße gehalten?", setze ich fragend zu einem klärenden Gespräch an. "Wie gesagt...", wimmelt er mich kurzerhand ab und wendet sich anschließend wieder anderen Besuchern zu. Das kann ja heiter werden. Eigentlich war ich bis gerade eben noch bei bester Laune und hatte mich schon seit Monaten auf diesen Tag gefreut. Jetzt muss ich scheinbar befürchten, trotz Beachtung der verschärften Einlassreglungen, durch die anstehende Kontrolle zu fallen. Nachdem vergangenen November der offizielle Vorverkauf begonnen hatte, saß ich schon pünktlich um 10.00 Uhr vor dem Rechner und ergatterte tatsächlich recht problemlos direkt begehrte Tickets für den Unterrang. Ich komme gerade gemeinsam mit meinen beiden Begleitungen von einem der großflächigen Parkplätze des Gelsenkirchener Stadions, der Veltins Arena, in welcher heute Abend die legendären "Depeche Mode" ihr vorerst letztes Deutschland-Konzert auf der aktuellen "Global Spirit"-Tournee geben. Hat man den Schotterplatz dann hinter sich gelassen, muss zuerst noch ein längliches Waldstück passiert werden, ehe man sich auf dem Vorplatz wiederfindet. Von hier aus wird einem die Weitläufigkeit des Geländes erst so richtig bewusst, zahlreiche Abzweigungen und Schilder verweisen auf die Eingänge für den Innenraum und die unterschiedlichen Tribünen. Einige Ordner mischen sich unter die zahlreichen Gäste und stehen mit hilfreichen Hinweisen zur Wegfindung bereit. Die Eintrittskarte sicher in den Händen, entwickelt sich die Suche schon bald zu einer kleinen Odyssee, bis wir endlich vor den zugewiesenen Toren angelangen. Anders als noch vor wenigen Minuten befürchtet, gibt es dort keinerlei Probleme. Der zuständige Security prüft anhand meiner Unterlagen kurz nach, ob ich mich für den richtigen Eingang entschieden habe, scannt das Ticket, unterzieht mich einem standardisierten Body-Check und wirft routinemäßig einen schnellen Blick in meine bereits vorab geöffnete Tasche. Das war's auch schon. Innen angekommen sichern wir uns als erstes die sogenannte "Knappenkarte", das einzig gültige Bezahl-Modul, lassen etwas Geld auf ebenjene laden und machen uns direkt danach zum Ausschank auf. Heute Abend gibt es drei unterschiedliche Motive auf den Tour-Bechern, ganz klar, dass die Sammlung da als kleine Erinnerung komplett sein muss. Glücklicherweise werden die Drinks selbst in Plastikgefäße gefüllt und man erhält das Souvenir separat. Eine rücksichtsvolle Geste seitens der sympathischen Kassiererin. Unsere nächste Anlaufstelle ist der offizielle Merchandising-Stand, von welchen es innerhalb der Veltins Arena lediglich zwei gibt. Einmal in den Gängen und einen weiteren im Innenraum selbst. Auf dem zentralen Platz vor dem Haupteingang des Stadions, wurde zusätzlich ein kleines Zelt errichtet, an welchem man ebenfalls eine kleine Auswahl an Fanartikeln erwerben kann. Das Angebot ist gewohnt umfangreich, wenngleich sich die Preise im oberen Segment befinden. Für ein einfaches T-Shirt fallen ganze fünfunddreißig Euro an, für eine Kapuzenjacke sogar knapp das Doppelte. Neben neuen Motiven im "Spirit"-Design, ist mit einem Print zu "Some Great Reward" auch dieses Mal wieder eine Vintage-Version zu einem der älteren Alben im Sortiment erhältlich. Die sonst so beliebten Optionen für den kleinen Geldbeutel jedoch, fallen eher mager aus. Ich entscheide mich für ein hellgraues Shirt mit dem aktuellen Cover-Artwork, das Tour-Programm, eine Tasse und einen Schlüsselanhänger. Der zuvor von mir präferierte Wollschal ist bereits seit dem Konzert in Köln vergriffen. Zwar schade, aber nicht weiter tragisch. Eher als angenommen, dringen durch die verschlossenen Türen dumpfe Klänge. Der Support muss gerade eben begonnen haben, dabei ist es doch erst 18.40 Uhr. Recht ungewöhnlich, wenn man nach dem sonst üblichen Timetable von Veranstaltungen ähnlicher Größe ausgeht, dafür wurde aber auch der Einlass schon verhältnismäßig früh angesetzt. Unter der Woche kann das jedem Berufstätigen also nur recht sein. Wir wünschen uns gegenseitig ein gelungenes Konzert und verabschieden uns noch schnell voneinander, da wir leider keine zusammenhängenden Plätze mehr bekommen haben. Dann wird es schließlich Zeit für mich. Während meine Begleitungen eine der äußeren Treppen zu ihrem Block nehmen, umrunde ich den riesigen Baukörper noch ein ganzes Stück weit und halte derweil nach der Tribüne des Sponsoren "R+V" Ausschau. Ein Mitarbeiter bemerkt meine hektische Desorientierung und hilft freundlich aus. Wenige Meter weiter rechter Seite, steige ich sodann einige Stufen hinab und eile durch das geräumige, eigene Foyer des Blocks, in welchem luxuriöserweise ebenfalls die benannte "Knappenkarte" an einer kleinen Ausgabestelle und kühle Getränke bezogen werden können. Ein Ordner öffnet mir lächelnd die schwere Doppeltür und fragt, ob ich eine Zuweisung benötige. Ich lehne dankend ab und gehe hindurch. Und da stehe ich also. Mitten auf der breiten Treppe zwischen Block D2 und C2. Letztgenannter ist mein Ziel und so geht es für mich abermals zahlreiche Stufen hinunter, bis ich an meiner Reihe angekommen bin. Noch sitzen nicht allzu viele Besucher hier, weswegen ich bin kaum jemanden störe. Freundlich stehen die beiden Herrschaften bereitwillig auf und so lasse mich einige Sekunden danach auf den Platz mit meiner Nummerierung sinken. Geschafft!
Algiers:
Für eine berühmte Band wie "Depeche Mode" mit zuzüglich einer derart großen Basis langjähriger Hardcore-Fans zu eröffnen, ist einerseits eine ziemliche Ehre, andererseits aber auch eine mindestens ebenso undankbare, wenn nicht sogar eine kaum erfolgreich zu bewältigende, schier unlösbare Aufgabe. Alle warten natürlich gespannt auf den kommenden Top-Act, sind gedanklich auf ihre Helden fixiert und damit eher wenig offen für Neues. Ein gesteigertes Maß an Desinteresse, einzig und allein begründet in versteifter Ungeduld, scheint zumeist an der Tagesordnung und reiner Höflichkeitsapplaus das höchste, überhaupt zu erreichende Maximum an Aufmerksamkeit oder Begeisterung. So verwundert es kaum, dass das Quartett quasi unter weitestgehender Stille die Bühne an diesem Abend einweihen muss. Die vier Musiker nehmen es sichtlich gelassen, scheinen sich den vorherrschenden Umständen bewusst und an die großteilig abweisenden Reaktionen schon gewöhnt zu sein. Bei dem hier umschriebenen Support handelt es sich um "Algiers", eine amerikanische Indie-Band. Die Formation, die 2007 in Atlanta gegründet wurde, zeigt sofort vom ersten Song an, ihre Leidenschaft zu komplexen Strukturen und experimentellen Sounds. Das stößt zumindest vereinzelt im Publikum auf Gegenliebe. Tracks wie "And When You Fall", "Blood", "Cleveland" oder "The Underside Of Power" vom gleichnamigen, aktuellen Album, wissen durchaus zu gefallen. Zumindest sofern man gerne auch mal genauer hinhört und sich bereit dazu zeigt, klassische Hörgewohnheiten abzulegen. Eine unterschätzte Fähigkeit, welche treuen Mode-Fans insbesondere in den letzten Jahren praktisch angewöhnt worden sein müsste. Die Mannen um Sänger Franklin James Fisher zeigen sich in den gut dreißig Minuten Spielzeit engagiert, spielfreudig und professionell. Dennoch fällt das Feedback leider enttäuschend gering aus. Sie nehmen es mit Gelassenheit und tragen ihre Bürde mit Fassung, scheinen sich sogar regelrecht über das eher mäßige Teilhaben freuen. Die Vier bedanken sich höflich fürs Zuhören, machen noch schnell ein gemeinsames Foto mit dem Publikum vor der Kulisse des riesigen Stadions und verabschieden sich danach kurz. Es ist und bleibt es hartes Brot. "There's no business like show business"...
Depeche Mode:
Unmittelbar nach dem etwa halbstündigen Set schwärmen nun zahlreiche Roadies und Techniker aus, die Instrumente des Supports eilig, aber dennoch äußerst sorgsam abzubauen. Zügig machen sie sich jetzt daran, das Equipment des Headliners in Position zu bringen, einige Getränkeflaschen daneben zu verteilen, sowie Kabel und Scheinwerfer zu überprüfen. Aus den Boxen dringt währenddessen düster pochender Trance, die großen Videoleinwände zu den Seiten zeigen derweil ein klassisches Testbild mit dem aktuellen Bandlogo. Das allein reicht offensichtlich schon dazu aus, um eine Vielzahl der Besucher aus ihrer unbeeindruckten Reserviertheit zu locken. Lauter Jubel brandet an einigen Stellen des Stadions auf, doch müssen sie alle sich zunächst noch etwas gedulden. Es ist tatsächlich schon eine wahre Kunst für sich, ein derartiges Höchstmaß an Spannung erzeugen und euphorische Erstreaktionen durch eher unscheinbare Kleinigkeiten hervorrufen zu können. Eine, die zumindest meinen bisherigen Erfahrungen nach, lediglich den ganz großen in diesem Geschäft vorbehalten zu sein scheint. Mittlerweile haben die Crew-Mitglieder ihre aufwändigen Arbeiten verrichtet und die Bretter wieder geräumt. Obgleich heute Abend weit über vierzigtausend Zuschauer anwesend sind, macht sich allgegenwärtige Stille breit. Irgendwie seltsam, inmitten einer der hohen Tribünen an einem Ort zu sitzen, an dem man an anderen Tagen vermutlich kaum mehr sein eigenes Wort verstehen kann und dies auch in wenigen Minuten nicht mehr können wird. Anders als bei sonstigen Events dieser Art, hat sich die hektische Schwarm-Attitüde spätestens mit dem Beginn der Vorband eingestellt. Niemand eilt mehr ziellos auf der Suche nach der Toilette, einem kühlen Getränk oder gar schnellen Imbiss durch die Gänge. Niemand steht mehr suchend auf den breiten Treppen zwischen den einzelnen Blocks und sucht seinen Platz. Dafür haben jetzt alle nur noch ein einziges Ziel, eine gemeinsame Blickrichtung. Die vereinzelten Gespräche mischen sich zu einem immer leiseren, dumpfen Brei, der langsam aber sicher im großen Nichts versiegt. Für einen kleinen Moment ist es ganz und gar still. Jetzt hält gefühlt jeder für einige wenige Sekunden stockend den Atem an, hofft fokussiert auf das Signal für den nahenden Beginn. Dann zerreißet plötzlich der schrille Schrei einer Sirene die einsetzende Stille, aus dem Off dröhnt dazu "Revolution" von den "Beatles". Ein unverkennbares Indiz dafür, dass es nun soweit ist. Die Aufmerksamkeit der Besucher ist kollektiv ungeteilt, bündelt sich spürbar immer mehr und scheint dann förmlich zu explodieren, als der Ausschnitt dieses Song-Klassikers langsam wieder in den schier endlosen Weiten der Veltins Arena verhallt. Unmittelbar danach ziehen dunkelblaue Lichtkegel auf und kreisen behäbig über dem weiten Innenraum des riesigen Stadions. Unter bedrohlichem Grollen erscheinen nun die weißen Stiefel aus Anton Corbijns aktuellem Cover-Artwork auf den ansonsten stockdunklen Leinwänden. Noch scheinen die schweren Sohlen ganz weit weg, fast in unendlicher Ferne zu sein. Es ist nicht allzu viel zu erkennen, doch scheinen sie sich gleichmäßig zu bewegen. Sie marschieren. Geradewegs auf die gebannten Besucher zu. Mit jedem ihrer donnernden Tritte kommen sie sichtbar näher, werden größer und größer, bis sie dann schließlich den Großteil der drei wuchtigen LED-Screens einnehmen. Der rhythmische Gleichschritt wird immer lauter, das martialische Poltern erfüllt jetzt scheinbar jeden Winkel, der Boden beginnt unter dieser Urkraft zu beben. Unter befreiendem Applaus betreten nun Schlagzeuger Christian Eigner und Keyboarder Peter Gordeno die Bühne, dicht gefolgt von den beiden Gründungsmitgliedern Andrew "Fletch" Fletcher und Martin Lee Gore. Tausende Hände erheben sich in den überdachten Himmel und klatschen im fordernden Takt. Gerade als der allgemeine Lautstärkepegel so dermaßen stark anschwillt, dass die gesamte Anlage scheinbar zu zerbersten droht, reißt das militante Dröhnen plötzlich überraschend ab. Ein kurzer Augenblick der totalen Stille. Keiner wagt ein Wort oder gar einen Jubelschrei, die Zeit scheint für diesen einen Moment völlig still zu stehen. Dann wird eine Saite angeschlagen, ihr Klang halt noch etwas nach. Ansonsten ist es ruhig. Und nochmal. Es folgt der Übergang zu einem leicht verzerrten Riff, das Schlagzeug setzt zurückhaltend ein. Auf einmal setzen erste, ekstatische Schreie aus dem Publikum ein. Unter schallendem Beifall wird auf einer breiten Empore allmählich eine Silhouette sichtbar. Durch die unzähligen Farbtupfer auf der zentralen Leinwand in der Mitte, sind ihre Umrisse im Halbdunkel zunächst nur schwer zu erahnen und doch scheint hier jeder einzelne Fan ganz genau zu wissen, um wen es sich dabei handelt. Es ist Frontmann und Sänger Dave Gahan, der nun die ersten Zeilen des Openers "Going Backwards" intoniert. Von dieser eindrucksvollen Erhöhung aus, thront er geradezu über dem Rest der Band. Wirkt wie ein großer Beobachter, ein Redner auf einer Kanzel. Er steht mit dem Rücken zum Publikum gekehrt, verharrt bis zum Ende der ersten Strophe streng in dieser Haltung. Erst als Eigner mit einem hallenden Beckenschlag sodann den offiziellen Startschuss gibt und Gore gleichzeitig mit der Gitarre einstimmt, löst er sich aus seiner distanzierten Pose heraus und entgleitet den Blicken der begeisterten Menge wieder, indem er zielstrebig in den Bühnenhintergrund hinabsteigt. Nur wenig später und mit dem Einsatz des ersten Refrains, entert er das Zentrum der Bühne von der linken Seite aus. Gahan trägt auch heute Abend wieder eine seiner gewohnt extravaganten Garderoben. Dieses Mal ist es ein rubinroter, glänzender Blazer aus Satin.
"Guten Abend, alle miteinander!", begrüßt er Gelsenkirchen freudestrahlend und die westliche Ruhrgebietsstadt heißt ihn im Gegenzug ebenso herzlich wie lautstark Willkommen. Die unbändige Freude der Anwesenden scheint hier nahezu alles zu überwiegen. Es liegt eine durch und durch familiäre Atmosphäre in der Luft und ganz viel Liebe. Angesichts dessen scheint "So Much Love" vom aktuellen Album "Spirit" mehr als prädestiniert dazu, das folgende Set weiter schlüssig voranzutreiben. Im dunkelroten Schimmer entledigt sich Gahan galant seines Jacketts und wirft es einem der Roadies am äußeren Bühnenrand zu. Die Leinwände zeigen dazu ein Performance-Video der Band in schwarz-weiß, im Refrain lassen einige Fans auf den Blöcken kleine Ballons in Herzform aufsteigen, die sich alsbald ihren Weg in den vorderen Bereich der Stehplätze suchen. "Barrel Of A Gun" von Fan-Liebling "Ultra" ist dann der erste ältere Song im Set und weiß damals wie heute mit seinen stark disharmonischen Parts zu punkten, "A Pain Tha't I'm Used To" kommt hingegen, wie auch schon bei der vergangenen "Delta Machine"-Tour, in der eher zahmen Remix-Version von Jacques Lu Cont daher. Mit "Corrupt" gibt es einen ersten Neuzugang im Live-Set, der schon bei der "Street Gigs"-Show im altehrwürdigen Funkhaus Berlin für einige Überraschung zu sorgen wusste. Passend aufpoliert und für die Konzerte neu arrangiert, wirkt der sozial- und politkritische Track vom gespalten aufgenommenen "Sounds Of The Universe" heuer deutlich gitarrenlastiger und fügt sich schon allein der Thematik wegen äußerst stimmig in die Dramaturgie des Leitfadens ein. Dunkle Synthie-Chöre leiten dann zum sehnsuchtsvollen "In Your Room" über, welches auf visueller Seite von einem tanzenden Paar untermalt wird. Corbijn hat mit seinen streckenweise recht abstrakten Kurzfilmen ein weiteres Mal den Kern der verschiedenen Songs getroffen. Mit den visuellen Elementen liefert er stets gänzlich unterschiedliche Interpretationsansätze und arbeitet die zugrundeliegenden Botschaften geschickt heraus, ohne dabei zu offensiv zu agieren. So kommt hier etwa das wechselhafte Spiel zwischen dem Führenden und Geführten, dem dominanten und devoten Part, ganz besonders ausdrucksstark zur Geltung und entfaltet seine Wirkung auf den Zuschauer unterschwellig und intensiv, zu keiner Zeit aber aufdringlich. Kopfkino der Extraklasse! Spätestens mit "World In My Eyes" haben "Depeche Mode" das nordrhein-westfälische Publikum dann ganz fest im Griff, schalten die Reihen förmlich gleich und reißen sie direkt mit den ersten Tönen kollektiv von den Sitzen. Behände tänzelt der Sänger zum poppigen Rhythmus über die Bretter und lässt es sich dabei einmal mehr nicht nehmen, mit seinem betont androgynen Charme und lüsternen Gesten zu kokettieren. Danach legt man mit dem emotionalen "Cover Me" nahtlos nach und präsentiert gleichsam einen weiteren Track des aktuellen Langspielers. Im fahlen Strahl eines einzelnen Scheinwerfers besingt Gahan isoliert die erste Strophe, während der Hintergrund ihn atmosphärisch als einsamen Astronauten auf einer Bank sitzend zeigt. Die Instrumentierung bleibt zunächst eher reduziert, Fletcher und Gordeno schaffen eine dezente Basis aus feinem Electro. Über allem steht fast alleinig der zerbrechliche Gesang, welcher die irdische Kälte unterstreicht und dem quälenden Fernweh nach einer besseren, anderen Welt Nachdruck verleiht. Die zweite Hälfte wird vorwiegend durch Eigners Part an den Drums bestimmt, Gahan beschreitet unterdessen zum ersten Mal an diesem Abend den langen Laufsteg und geht auf Tuchfühlung mit den Fans. Zu futuristischem Sound tritt er die lange Reise ins Ungewisse an, schwebt in die Weiten des Universums hinein. Das Publikum dient als antreibender Katalysator, folgt den Instruktionen des Frontmanns und klatscht lautstark und ausdauernd im Takt. Eine absolute Perle, die vor allem live ihre ganz eigene Wirkung entfaltet.
Danach ist zum ersten Mal die Zeit für eine erholsame Ruhephase gekommen, welche nicht nur der engagierte Sänger selbst, sondern auch das ausgepowerte Publikum angesichts der bisherigen, doch recht schweißtreibenden Songs gut gebrauchen kann. Dieser wichtige Platz wird, wie mittlerweile seit Jahren traditionell üblich, von einem Kurz-Set durch Gründungsmitglied Martin L. Gore ausgefüllt. Der versierte Gitarrist und Songwriter zeigt sich stets überaus facettenreich und braucht sich angesichts seines weitreichenden Talents keineswegs hinter Gahan und Co. verstecken, wie alle Erstbesucher schnell erfahren werden. Das gefühlvolle "A Question Of Lust" macht als gelungene Akustik-Ballade den Anfang, wobei Gordeno die musikalische Unterstützung am Keyboard übernimmt. Natürlich stimmen hier alle begeistert mit ein und recken erste Feuerzeuge und Handylichter in die Höhe, bis das bedrohliche "Home" dann wieder bedeutend dunklere Töne anschlägt. Zu dessen Ende nimmt Gore lächelnd einigen Anlauf und sprintet auf dem Steg beherzt über die Köpfe der ersten Reihen hinweg. Zur sichtlichen Freude des sympathischen Multiinstrumentalisten beginnt nun ein Großteil der Fans damit, die finale Passage des abschließenden Gitarrensolos nachzuahmen und die eingängige Melodie als gemeinsamer Chor noch lange nach ihrem Verklingen zu singen. Mit der Rückkehr der anderen Musiker, geht es wieder zurück ins Jahr 2017 und somit auch zu "Spirit". Das schleppende Blues-Crossover "Poison Heart" mutet zwar etwas sperrig und an dieser Stelle eher deplatziert an, fährt aber dennoch wohlwollenden Applaus ein. Unter giftgrüner Sparbeleuchtung verschwindet ein Großteil der Szenerie hinter einer dichten Nebelwand, während Gahan den besungenen Herzschmerz mimisch ironisiert. Anschließend ruft man Gelsenkirchen mit der ersten Vorab-Single "Where's The Revolution" zum gemeinsamen Aufstand gegen die derzeit vorherrschende Ungerechtigkeit und weltliche Missstände auf. Anders als seine glattgebügelte Album-Version, dröhnt der energetische Up-Tempo nun deutlich rauer und hörbar kantiger durch die Veltins Arena, legt den Fokus mehr auf druckvolle Synthies und treibendes Drumming. Natürlich dürfen die dazu passenden Artwork-Symboliken Corbijns gerade bei dem neuen Vorzeige-Titel keineswegs fehlen und so marschieren in den Strophen zahlreiche Stiefel in Schwarz und Rot über die breiten Screens, während im Hauptteil Fäuste und Fahnen in die Luft gereckt werden. Den finalen Part besingt Gahan dann in Anlehnung an den dazugehörigen Video-Clip wieder von der Empore und animiert die Menge von dort aus zu lauten Sing-Along-Chorälen des catchigen Refrains. Das ganze Stadion singt nun aus vollen Kehlen mit und wer glaubt, dass sich das Trio auf diesen Standard ausruht, irrt gewaltig. Im Gegenteil, die Engländer haben ihr Publikum gerade erst auf die von ihnen beabsichtigte Schiene geführt und haben es jetzt genau dort, wo sie es von Anfang an haben wollten.
Zu den mystischen Klängen einer elektronisch verzerrten Spieluhr wird in vollkommener Dunkelheit nun ein Konstrukt aus mehreren, ungleichen Scheinwerfern langsam gen Boden heruntergelassen. So verträumt und beruhigend die Atmosphäre zunächst auch wirken mag, so sehr trügt der Schein. Unter der scheinbar friedlichen Oberfläche brodelt es erheblich, bis man das drückende "Wrong" endlich von der Kette lässt. Der Ruhrpott feiert, tanzt, singt. Alle Energie wird jetzt freigelassen. Erst recht dann, als im direkten Anschluss stroboskopisches Licht wild durch die Reihen zuckt und vereinzelte Töne erste Hinweise auf das folgende Highlight liefern. Durch den jähen Einsatz des wuchtigen Schlagzeugs hat ein Großteil der eingefleischten Fans schon erkannt, um welchen Hit der Bandgeschichte es sich hier handelt, der Rest bemerkt es spätestens durch die berühmte Keyboard-Sequenz in Verbindung mit der obligatorischen Fanfare: "Everything Counts"! Der unverzichtbare Klassiker aus den Achtzigerjahren kritisiert die schier unstillbare Profitgier der herrschenden Oberschicht und ist damals wie heute hochaktuell. Wohl kaum ein anderes Lied fügt sich so homogen in das mahnende Leitbild der "Spirit"-Thematik. Das verrucht-lasziven "Stripped" schließt sich unverzüglich an und versprüht zusammen mit der ausgeklügelten Lightshow gar knisternde Hochgefühle, wirklich alle Dämme werden aber erst mit Dauerbrenner "Enjoy The Silence" so richtig zum Einsturz gebracht. Bereits dessen anfängliches Instrumental sorgt für laute Jubelstürme und lässt zahlreiche Handydisplays in die Höhe steigen. Diesen Song kennt heute Abend wirklich jeder, ein wahres Relikt von unermesslichem Weltruhm. In solchen denkwürdigen Momenten live dabei und ganz dicht am Geschehen, anstatt vor heimischen Anlage oder dem flimmernden Fernsehmonitor zu sein, war schon immer mehr als unbezahlbar. Im berühmten Zwischenteil gibt sich Gore dann ganz seinem Solo hin, Gahan breitet leidenschaftlich die Arme aus, alle können diese einzigartige Energie und Dynamik ganz dicht bei sich spüren. Das Mikrofonstativ in beiden Händen, wirbelt er halsbrecherisch umher, dreht sich um die eigene Achse. Das Publikum ist gefangen und gibt ihm die Power zurück. Beeindruckend. Damals. Heute. Für immer. Ein Klassiker reiht sich nun dicht an den nächsten und eines der wohl bekanntesten Gitarrenriffs überhaupt treibt die allgemein vorherrschende Euphorie in ganz neue Höhen: "Never Let Me Down Again". Seit jeher die magische Verbindung zwischen der Band und ihren Fans. Zum spektakulären Finale reicht dann nur noch ein kleines, doch altbekanntes und nicht minder bedeutungsschweres Signal des Fronters aus, damit alle Vierzigtausend ihre Arme zeitgleich in die Lüfte erheben. Die Veltins Arena verwandelt sich in ein gigantisches Meer aus wogenden Händen. Gahan selbst betritt zeitgleich glücklich schmunzelnd erneut den langen Laufsteg, nimmt inmitten dieses beeindruckenden Spektakels sein wohlverdientes Bad in der Menge. Auch das ist, wie so vieles an diesem Abend, ein lang gehegtes Ritual, eine gut behütete und jedes Mal wieder festlich zelebrierte Tradition, welche die Jahre überdauert und dabei doch nichts von ihrer Authentizität und Magie eingebüßt hat. Ohne blutleer einfach so durchexerziert zu werden, ohne lieblos und aufgesetzt zu wirken. Die Fans lieben jeden einzelnen dieser nostalgisch angehauchten Momente und "Depeche Mode" tun es auch. Das merkt man. Erst lassen sie sich noch einige Sekunden ausgiebig feiern, dann verlassen alle Musiker geschlossen die Bretter. Gelsenkirchen im Ausnahmezustand. Selbstverständlich möchte noch niemand der Besucher das Quintett einfach so ziehen lassen und so fordern Tausende begeistert eine Zugabe ein. Wirklich lange muss sich das Ruhrgebiet nicht gedulden, denn schon wenige Minuten später kehren Gordeno und Gore zurück, um den zweiten Block einzuleiten. Doch anstelle des auf dieser Tournee standardmäßig gespielten "Somebody", bietet das Duo stattdessen "Judas" im reduzierten Akustik-Gewand dar, welches erst seit wenigen Shows wieder seinen festen Platz im Set gefunden hat und an diesem Abend sein Debüt bei den diesjährigen Deutschland-Konzerten feiert. Die beliebte Hymne "Walking In My Shoes" schließt sich danach direkt in voller Besetzung an und steht noch immer als klares Statement für ein selbstbestimmtes und vorurteilsfreies Leben. Äußerst passend dazu zeigen die drei Leinwände einen Kurzfilm über den Tagesablauf eines jungen Mannes, der sich zu schminken beginnt und schließlich als Frau auf die Straße hinaustritt. Ein wichtiges Statement! Seit einigen Jahren greifen die Todesfälle im Showbusiness vermehrt um sich. Mit David Bowie ging nicht nur ein wegweisender und äußerst talentierter Künstler, sondern auch ein enger Freund Gahans von uns. Mit dem Cover des weltbekannten Überhits "Heroes", erweist der Fünfundfünfzigjährige seinem Idol und Wegbegleiter auf anrührende Art und Weise die letzte Ehre. Neben Gore verlässt nun auch Peter Gordeno sein Pult und schnallt sich die Haltegurte einer Gitarre um. Eigner hingegen setzt erst nach dem Refrain sanft mit seinem Spiel ein, Fletcher steuert dezente Synthie-Flächen hinzu. Vor dem Hintergrund einer wehenden, schwarzen Flagge steigert sich die auf ein Minimum reduzierte Nummer langsam zu einem emotionalen Höhepunkt im Set. Gahan ist sichtlich ergriffen, singt die meiste Zeit über mit geschlossenen Augen, ist in jedes einzelne Wort vertieft. Großer Applaus ist die Folge. Diese Kurve greift die Band gleich wieder auf und legt das kraftvolle "I Feel You" nach. Erneut ausreichend Kraft aus der vorangegangenen Ruhephase geschöpft, hechtet der Sänger erneut von der einen zur anderen Seite, stellt sich auf die Flächen der breiten Monitorboxen und befeuert die Menge zum mitmachen. Besonders bei den riesigen Stadionkonzerten entfaltet der Song seine anziehende Wirkung in ganzer Pracht. Danach verhallt der Jubel. Kurze Zeit bleibt es dunkel. Stakkatohafte Electro-Sounds flirren zusammen mit zuckenden Lichtern auf. Begeisterte Zurufe. Rhythmisches Trommeln. Und dann die bekannte Zeile vor dem Refrain. Ein markantes Riff. Ekstase. "Personal Jesus", der letzte Song an diesem Abend. Tausende feiern den straight rockenden Klassiker, einige Besucher springen im Takt auf und ab. Nach über zwei Stunden ist es dann vorbei, Gelsenkirchen hat den "Global Spirit" empfangen und trägt ihn durch jeden Besucher vermutlich noch lange danach in sich. Zum Abschied reihen sich die fünf Musiker vor der beeindruckenden Kulisse nochmals auf, verbeugen und umarmen sich gegenseitig herzlich. Ein erfreulich motiviert und erfrischend wirkender Auftritt einer absoluten Legende, die Hallenkonzerte im Winter können also kommen!
Setlist:
01. Intro
02. Going Backwards
03. So Much Love
04. Barrel Of A Gun
05. A Pain That I'm Used To
06. Corrupt
07. In Your Room
08. World In My Eyes
09. Cover Me
10. A Question Of Lust
11. Home
12. Poison Heart
13. Where's The Revolution
14. Wrong
15. Everything Counts
16. Stripped
17. Enjoy The Silence
18. Never Let Me Down Again
19. Judas
20. Walking In My Shoes
21. Heroes (David Bowie Cover)
22. I Feel You
23. Personal Jesus