Steve Naghavi - „Live & Relaxed"-Tour - Matrix, Bochum - 06.04.2017
Veranstaltungsort:
Stadt: Bochum, Deutschland
Location: Matrix (The Tube)
Kapazität: ca. 700
Stehplätze: Ja
Sitzplätze: Ja
Homepage: http://matrix-bochum.de/startseite.html
Einleitung:
Nach einigen Runden auf dem Parkplatz des nahegelegenen Supermarkts, kommt das Auto endlich auf einem der wenigen freien Parkplätze langsam zum stehen. Einige Fahrer nach mir haben weniger Glück und freuen weiter ihre Runde, auf der Suche nach einem Stellplatz. Kein Wunder, es ist Donnerstag Abend und ein nicht unerheblicher Teil der Ortskundigen will nach dem Feierabend noch schnell die restlichen Einkäufe von der Liste streichen. Es ist etwa 19.00 Uhr, ich befinde mich in Bochum Langendreer und liege für den Besuch des heutigen Events somit äußerst gut in der Zeit. Dass das längst nicht auch für alle übrigen Gäste gelten muss, offenbart sich mir, als ich langsam um den Komplex herumgehe und mein Blick schlagartig auf den Eingang der Lokalität fällt. Vor diesem haben sich zum jetzigen Zeitpunkt nicht einmal dreißig Personen eingefunden, der Einlass scheint trotz den vorherigen Informationen noch nicht erfolgt zu sein. Mit einem weiteren Blick auf die Uhr, kann ich mich guten Gewissens entspannen und entscheide mich, wie auch schon vor dem Konzert von "Heldmaschine" im vergangenen Jahr, für einen abendlichen Snack bei "Bruno's Imbiss". Typisch für das Ruhrgebiet, lasse ich mir hier das klassische Kohlenpott-Gedeck, bestehend aus Currywurst und Pommes mit Mayonnaise, servieren. Dieses Mal jedoch in weiser Voraussicht und damit ohne den wählbaren Schärfegrad leichtsinnig anzuziehen. Als ich meine Portion auf die Ablage des Stehtisches vor mir abstelle, sehe ich abermals zu den wartenden Fans hinüber. Mittlerweile haben sich die Türen geöffnet und gesitteten Schrittes treten die Ersten ein. Ja, ich stehe unmittelbar vor dem angesehenen Kult-Club "Matrix" und nicht etwa vor einer großräumigen Halle mit sakralem Vorderbau im Zentrum der Innenstadt. Warum? Weil tatsächlich exakt der unrühmliche Zwischenfall eingetreten ist, welchen ich bereits weit im Vorfeld hervorzusehen geglaubt habe. Ungefähr seit Beginn des aktuellen Jahres häufen sich die Ereignisse und kein Ende scheint in Sicht. Was sich zuerst nur vereinzelt und schleichend anbahnte, ist in den letzten Monaten beinahe zum tragischen Standard geworden. Wie sich in den letzten, fast schon zu berechnenden Mustern langsam aber sicher abzeichnete, ist das Prinzip dabei immer das gleiche. Zuerst werden Konzerte in einer der zahlreichen Locations dieser Region angekündigt und der Vorverkauf läuft regulär an. Soweit der gewohnte Ablauf und nichts beunruhigendes. Doch dann verbreiten sich einige Wochen vor der jeweiligen Veranstaltung über die Kanäle der einzelnen Künstler, Labels oder Örtlichkeiten selbst, erste Informationen über eine Verlegung in eine andere Venue oder sogar gänzlich andere Stadt. Ein unglücklicher Umstand, der insbesondere für Gäste mit einer weiten Anreise zwangsweise zu teils untragbaren Nebenkosten und umständlichen Neuplanungen führt. Der Grund dafür ist innerhalb der Branche mittlerweile längst bekannt und dadurch aber nicht weniger schockierend: Der lokale Veranstalter "Killpop Events GmbH" hat endgültig Insolvenz angemeldet. Lange Jahre engagierte sich das Team aktiv in der Szene und holte den treuen Fans ihre Lieblingsbands direkt in unmittelbare Nähe. Doch birgt dieses wandel- und unberechenbare Business immer wieder auch ein nicht zu verachtendes Maß an möglichen Risiken, teilweise hervorgerufen durch eventuelle Fehleinschätzungen und Verkalkulierungen. Ein derzeit scheinbar unüberwindbarer Teufelskreis. Zur großen Erleichterung der Ticketinhaber müssen die Shows dennoch nicht entfallen, wenngleich das investierte Geld verständlicherweise nicht zurückerstattet werden kann. Die Konzerte werden also vorzugsweise zu gewissen Anteilen in die eigenen Räumlichkeiten verlegt, um möglichst kostengünstig operieren zu können. So wurde etwa Anfang März die Unplugged-Session der Formation "Solar Fake", von der Christuskirche in die Tube der "Matrix" verlegt und das innovative "Neon"-Projekt der Folk-Metaller "Subway To Sally", erst eine Woche zuvor wiederum von der "Lichtburg" Essen in die Christuskirche Bochum. Die Acts arbeiten dabei eng mit dem Veranstalter zusammen und verzichten dabei auf einen Großteil ihrer Gage, um den Besuchern trotz der akuten Situation ein unvergessliches Erlebnis bereiten zu können. Meinen tiefen Respekt an beiden Seiten dafür! Auch wenn ebenjene befürchteten Neuigkeiten für den heutigen Abend in den letzten Wochen ausblieben und vorerst dementiert wurden, folgte am gestrigen Nachmittag das zugegeben sehr kurzfristige Statement, samt neuem Spielort. Für viele potentielle Besucher vielleicht zu kurzfristig, befindet sich der Club im Vergleich zur ursprünglichen Stätte auf dem Stadtplan doch um einiges weiter entfernt. Die verworrenen Straßenbauarbeiten tuen, ohne das nötige Wissen über alternative Routen, ihren gewissen Teil dazu bei. Kurz bevor ich die Tore passiere, kommt mir ein Paar mittleren Alters zuvor und blickt sich suchend um. "Hm, hier muss es doch sein?", fragt der Mann und schaut zur Sicherheit nochmal auf seine Eintrittskarte. Als die beiden endgültig sicher zu sein scheinen, treten sie ein und erkundigen sich an der Kasse. "Entschuldigung, wir wollten gerne zu Steve Naghavi. Sind wir hier richtig? Warum wurde denn das Konzert eigentlich verlegt?". "Das hätte sich sonst nicht gerechnet.", entgegnet das Sicherheitspersonal knapp. Verzehrkarten werden am heutigen Abend ebenfalls nicht wie sonst üblich ausgeteilt. Als ich die steilen Treppen in die Katakomben hinuntersteige, fällt mir als erstes auf, dass der große Bereich mit den Sitzgelegenheiten im Dunkeln liegt und von einem großen Vorhang abgetrennt wird. Ein paar Stufen weiter unten, ein ähnliches Szenario. Dort, wo sonst der Merchandising-Stand errichtet ist, herrscht nun ungewohnt gähnende Leere. Als ich um die Ecke zum Saal biege, sehe ich die erste und einzige geöffnete Theke, welche mit ganzen zwei Personen besetzt ist. Völlig ausreichend, wie sich noch herausstellen soll. Als ich den langen Tunnelgang betrete, machen sich Verwunderung und Ernüchterung gleichermaßen breit: Zwar wurde der Saal dankbarerweise hinreichend bestuhlt, allerdings füllen die Reihen gerade einmal knapp die Hälfte aus. Das eigentliche Fassungsvermögen beträgt mit seinen Kapazitäten von rund siebenhundert Plätzen allerdings weitaus mehr.
Steve Naghavi:
Pünktlich um 20.15 Uhr, also direkt zur besten Sendezeit, erklingt aus den omnipräsenten Boxen ein unüberhörbarer Gong, hallt fortan durch die verschachtelten Gänge und kündigt somit äußerst stilvoll und in bester Theater-Manier den jähen Beginn eines langen Abends an. Das schummerige Licht in der sogenannten Röhre wird allmählich gedimmt, bis der längliche Veranstaltungssaal nahezu in vollkommener Dunkelheit liegt. Ein Großteil der anwesenden Gäste hat bereits innerhalb der feinsäuberlich errichteten Stuhlreihen Platz genommen, doch noch soll erst ein wenig Zeit verstreichen. Einige wenige Besucher stehen an der ungewohnt spärlich besetzten Bar, dessen Personal allerdings für das heutige, recht limitierte Besucheraufkommen genau angemessen kalkuliert wurde. Plötzlich öffnet sich eine Tür an der linken Seite, aus welcher nun vereinzelte Backstage-Gäste hervortreten und durch den freien Pfad in der Hallenmitte ihre reservierten Plätze direkt vor der Bühne einnehmen. Freie Stellen gibt es in der zur Hälfte bestuhlten Matrix lediglich lückenhaft, die Anzahl der georderten Sitzgelegenheiten scheint mehr als ausreichend. Ein kleiner Teil an Nachzüglern zieht die beiden seitlich gelegenen Bänke am Ende des Ganges oder einen ruhigen Stehplatz vor. Trotz der Verlegung haben offenbar alle Ticketinhaber den verhältnismäßig weiten Umweg von der zentral gelegenen Christuskirche zum Stadtteil Langendreer gefunden, zumindest sind keine auffälligen Unruhen zu verzeichnen. Obwohl inzwischen fast fünfzehn Minuten verstrichen sind, bleibt es im Publikum nahezu verdächtig still. Keinerlei unangemessene Zwischenrufe durchsieben die von Spannung erfüllte, zugegebenermaßen leicht drückende Luft. Keine Unruhe, kein Unmut macht sich in der abgedunkelten Lokalität breit. Ab und an ist ein sanftes Tuscheln aus der ein oder anderen Ecke zu vernehmen, ansonsten ist es merkwürdig ruhig. Bochum scheint sich das kommunizierte Konzept offenbar tief verinnerlicht zu haben, bleibt fast lautlos und tatsächlich merkbar entspannt. Nach einer Viertelstunde, die sich für einen Großteil der Anwesenden wie eine halbe Ewigkeit angefühlt haben dürfte, soll es dann aber auch endlich soweit sein. Ein intensives Vibrieren macht sich in den weiten Katakomben breit. Erst kaum spürbar, doch dann immer mehr, steigt die dumpfe Tonlage langsam zu einem seltsam bedrohlichen Grollen an. Diese mischt sich zu einem beständigen Rauschen und mündet schließlich in einem mystisch gehauchten, wohlbekanntem Sample. Dichte Nebelschwaden ziehen auf, während dunkelblaue Lichtkegel umherkreisen und das Geschehen zögerlich aufhellen. Mit einem Mal schälen sich zwei Schatten aus der Düsternis, nach und nach werden die schemenhaften Umrisse zweier Personen klar sichtbar. Eine davon begibt sich beständigen Schrittes sogleich hinter das weiß gerahmte Keyboard-Stativ, welches dicht am vorderen Bühnenrand positioniert ist. Die andere Gestalt hält sich zunächst noch dezent im Hintergrund und nähert sich erst zu den anfänglichen Takten des eröffnenden "Sexkeit", mit bedächtigen Schritten dem fahlen Schimmer der Scheinwerfer. Es sind unverkennbar Multiinstrumentalist Nico Wieditz und "And One"-Frontmann Steve Naghavi, welche erst nach dem letzten, verklungenen Ton des Openers respektvoll und warmherzig von ihrem Publikum begrüßt werden. "Was ist los hier? Ich werde mich mal kurz setzen, wenn's okay ist.", begrüßt der Sänger die applaudierenden Fans verwundert und nimmt auf einem Barhocker in der Mitte Platz. Nun gibt die Technik auch den Blick auf das übrige Ambiente frei: Neben einer schwarzen Ledercouch, einer großen Topfpflanze und dem warmen Schein einer Tischlampe, gehört auch eine hölzerne Kommode im 60er-Jahre-Stil zum Interieur. Darauf flirrt das Testbild eines alten Röhrenfernsehers. Gemütliche Wohnzimmer-Atmosphäre mitten in der Matrix!
"Merkt es euch, so werdet ihr mich lange nicht mehr sehen. Liebes Bochum... Danke, dass ihr den Weg in die Matrix geschafft habt, auch wenn es ein bisschen kurzfristig war. Das ist aber auch irgendwie ein komischer Name, oder? Klingt ein bisschen wie "Matrix und Obelix", hm?". Vereinzelte Lacher. "Wer jetzt glaubt, dem Veranstalter die Schuld in die Schuhe schieben zu müssen, der irrt. Mal läuft's gut und dann läuft's mal wieder nicht so gut. Da verschätzt man sich dann vielleicht mit dem ein oder anderen Großprojekt... Aber diesen Menschen ist es zu verdanken, dass ein Abend wie heute überhaupt stattfinden kann.", spielt er auf die kürzlich offengelegte Insolvenz des örtlichen Veranstalters "Killpop Events GmbH" an und nimmt etwaigen Vorwürfen somit gleich vorab den Wind aus den Segeln. Eine wirklich lobenswerte Geste und ein starkes Statement, wenn Künstler auch in schwierigen Zeiten ihre schützende Hand über genau die Art von Kooperationspartner halten, die ihnen über die Jahre mit einem ebensolchen Engagement zur Seite gestanden haben. "Ja, wir sind Steve Naghavi...", greift der Entertainer den Faden wieder auf. "Die schlechte Nachricht ist, dass ihr nix für euer Geld bekommt, aber das seid ihr ja gewohnt. Der Abend steht unter dem Motto "Party ohne Ende", zumindest für meine Verhältnisse. Immerhin werde ich ja auch bald Vierzig... in zehn Jahren. Damit bin ich hier ja gewissermaßen unter Gleichgesinnten, lange machen wir alle nicht mehr. Ich bin zwar auch der Letzte der geht, aber ich werde euch besuchen kommen. Mit Blumen. Wir spielen jetzt den letzten Song des Abends, der im Original übrigens "Pleasure And Pain" heißt. Das war die letzte Fachinformation für heute, der Rest ist Bullshit. Der Song wurde dann später eingedeutscht. Wenn ich auf Englisch singe, finden das die Engländer immer lustig. So wie ein Kind, das gerade Dreirad fahren gelernt hat. Heute gibt es eine Kombination aus der veröffentlichten und der ursprünglichen Version, die sich "Warrior" nannte. Das heißt "Krieger"., beendet Naghavi seine gewohnt lang anhaltende Redepause und gibt anschließend das gleichnamige Stück in seiner ehemaligen Demo-Version zum Besten, wie es sie anno 2012 auch schon auf der kostenlosen Download-EP "Shice Guy" zu hören gab. Eine äußerst angenehme und willkommene Abwechslung. "Das klingt geil, dass ich das mal erleben darf! Ganz zurückhalten müsst ihr euch aber nicht, so förmlich. Das war auch schon der Höhepunkt für heute. Wenn Joke und Rick das sehen könnten, aber die wollten das ja nicht. Ich habe übrigens gehört, dass wir der erste Act in der Geschichte der Matrix mit einem bestuhlten Konzert sind. Das ist doch mal was! Das nächste Lied ist zu schade, um es als Bonus-Track verrecken zu lassen, denn es liegt mir sehr am Herzen.". Als Naghavi gerade weitererzählen will, steht plötzlich ein Gast aus einer der mittleren Reihen auf und versucht, sich leise im Schutz der Dunkelheit davonzustehlen, was den aufmerksamen Augen des redseligen Sängers selbstverständlich nicht entgangen ist. "Wo willst du denn hin? Du bist doch bestimmt "Pakt"-Fan... Geh' dorthin, wo ich dich nicht mehr sehen muss!", witzelt er über den sichtlich verlegenen Besucher. "Wo war ich? Der Song liegt mir sehr am Herzen. Leider habe ich es aus Zeitgründen nicht zustande gebracht, ihn rechtzeitig zur "S.T.O.P." fertigzustellen. Warum? Aus den gleichen Gründen, aus denen ich alles und alle Alben nicht rechtzeitig zustande bringe." Und so geht es schließlich mit dem hochemotionalen "Missing Track" weiter, einer tatsächlich viel zu sehr unterschätzten B-Seite der "Back Home"-Single.
"Zum Thema Arbeit habe ich eine komische Einstellung. Niemand arbeitet gerne, aber niemand arbeitet so ungern wie ich. Arbeit ist, wenn man das Gefühl hat, etwas tun zu müssen. Dann kommt dabei so etwas heraus, wie... Seht ihr? Ich kann mich noch nicht einmal daran erinnern. Die Fragen darüber, wann denn etwas kommt, sind weniger geworden. Aber nicht weil ich denke, dass das Interesse gesunken ist, sondern weil ihr mittlerweile verstanden habt, wie ich ticke. Wenn man dann doch mal ein Datum aus mir herauskitzeln kann, sagen alle, "Der lügt!". Dabei lügt der gar nicht. In dem Moment glaube ich das wirklich. Und dann steht man wieder unter Druck. Das ist ein bisschen wie beim streiten. Heute ist das zwar alles um einiges harmonischer, aber damals war's halt so, dass ich mir gedacht habe, "Blöde Kuh, fick dich!". Und dann bin ich ins Studio gegangen, habe Musik geschrieben und mir selbst leid getan. Auch ich habe Gefühle und Schmerzen, das ist mein liebstes Thema. Ich habe heute einen Song von der "Trilogie II" dabei. Den haben wir zwar schon auf der letzten Tour gespielt, aber das war ja "And One" und heute ist Steve Naghavi. Der hat sich den für euch einmal geliehen.", leitet der Alleinunterhalter geschickt zum bisher unveröffentlichten "Dein Mann" über. Die dunkel-emotionale Ballade kommt, wie auch schon auf der Best-Of-Tournee im Herbst des vergangenen Jahres, im bereits gewohnten Sound daher und hat dabei doch nichts von ihrer berührenden Intensität verloren. Zudem passt die Melange aus einfühlsamer Liebesbekundung und unverkennbarem Synth-Pop mehr als gut in das aktuelle Konzept und vollbringt es ganz nebenbei noch, die somit erzeugte Spannung und Vorfreude des geneigten Hörers auf neues Material zu schüren. Den Rücken zum Publikum gekehrt, zieht der Sänger zunächst heimlich an seiner E-Zigarette, bevor er sich direkt wieder seinen Gästen zuwendet. "Ich werde euch nach sechseinhalb Stunden nochmal fragen, ob die Stühle bequem sind. Geht's denn? Die habe ich persönlich für euch angemietet, damit ihr alle sitzen könnt. Das ist übrigens kein Witz. Wann waren "And One" eigentlich das letzte Mal in Bochum? Etwa 2000 in der Zeche, kann das sein? Da hatte ich so eine Phase, in der ich dachte, dass man Sauerstoffflaschen mit auf Tour haben müsste. Die haben wir dann aus so einem Sportgeschäft mitgenommen. Und in der Zeche, das weiß ich noch, war im Backstage ziemlich dicke Luft. Ich bin da reingekommen und habe gesagt, "Ich kriege keine Luft, macht mal sofort das Fenster auf!". Die haben dann gesagt, "Die kriegen wir nicht auf, ist so ein komisches Schloss.". Ich habe dann einen Aschenbecher genommen und schon war's auf... Für 450 Mark ein bisschen frische Luft vor der Zugabe. Da war die Gage damals dann auch schon fast weg. Hauptsache ein bisschen frische Luft. Wir haben uns eine Cover-Version geliehen und zwar von einer Hamburger Band, die heißt "Blumfeld". Wer ist hier alles vergeben?", blickt Naghavi fragend in den Saal. Einige Hände gehen nach oben. "Dann wisst ihr auch nicht mehr, was Blumen eigentlich sind!", spottet er gewohnt schwarzhumorig. "Ich kann diese Musik nur jedem ans Herz legen, der "And One" oder Teile davon mag und den heutigen Abend nicht allzu nervig findet.". Und tatsächlich macht das poppige "1000 Tränen Tief" der bekannten Hanseaten eine unerwartet gute Figur im Set, wenngleich die Klänge auch ein wenig schlageresk anmuten. Vielleicht ist es aber gerade dieser persönliche und uneingeschränkte Blick über den Tellerrand der Szene, welcher die Darbietung zugleich so dermaßen authentisch macht. Mit der Ur-Version des unverzichtbaren Live-Klassikers "Für", geht es dann wieder in gewohnte Fahrwasser über. Zwar deutlich ruhiger als im sonst so energetischen Gewand, frischt das veränderte Arrangement die Hymne vom Album "I.S.T." ordentlich auf und verleitet auch jetzt die ersten Fans zum aufstehen und tanzen.
"Das waren noch Zeiten, oder? Wo noch alles besser war... "And One", "Depeche Mode", ficken... Ich habe nur für euch gesprochen. Als ich den nächsten Song geschrieben habe, war ich umgerechnet Dreizehn. Ich war sehr jung. Ungefähr wie heute. Und ich hatte natürlich Herzschmerz. Ich war mit Sabine Wildemann zusammen, die, wie sich später herausstellte, echt doof war. Nach der Trennung habe ich dieses Lied gemacht, aber wegen der Frau davor. Und Sabine dachte, es wäre für sie. Leider hatte man damals noch kein Handy, welches man ausstellen konnte.". Mit "Dein Duft" bleibt man beim beliebten Erfolgsalbum aus dem Jahre 1994 und präsentiert somit eine rare Perle mit absolutem Seltenheitswert, die es bereits seit einigen ausgewählten Terminen der "Forever"-Tour nicht mehr zu hören gab. "Sind denn auch "And One"-Fans unter euch?", erkundigt sich Steve danach neugierig beim Publikum. "Heute gibt's keinen "Pimmelmann", sondern nur traurige und langweilige Lieder. Zum Beispiel "Klaus" im Dance-Megamix, damit der Laden aus allen Nähten platzt. Ich habe Durst und überlege schon die ganze Zeit, ob ich mich mal eben bequem nach hinten beugen soll. Das habe ich mir ja schon lange gewünscht!", freut sich Naghavi spitzbübisch. "Bei "And One" werde ich ja nach Kilometern abgerechnet. Heute Abend, das wird euch nicht gefallen, werde ich nach Worten bezahlt.". Einige Besucher lachen und klatschen erheitert Beifall. "Das ist keinen Applaus wert, das steht im Vertrag drin. Heute muss ich versuchen die 21.000 voll zu bekommen. Der nächste Song ist leider nichts für dich...", wendet er sich an einen Gast, welcher bei der vorausgegangenen Frage kein Handzeichen gegeben hat. "Der ist nur für "And One"-Fans. Wenn du die Gütigkeit hättest, gleich einen Moment wegzuhören? Denn da kommt einmal das Wort "And One" vor. Ich gebe dir dann ein Zeichen.". Natürlich folgt nun "Keiner Fühlt's Wie Wir" vom aktuellen Album "Magnet". Eine bezeichnende Hommage an Band und Fans gleichermaßen. Mit theatralisch schmerzerfülltem Blick hält sich Naghavi die Hüfte und nimmt einen weiteren Schluck Wasser zu sich. "Ich glaube für den nächsten Song sollte ich lieber aufstehen...", mutmaßt er und blickt auffordernd zu Keyboarder Nico Wieditz herüber. Als dieser auf seinem Instrument aber die Nationalhymne anspielt, nimmt der Sänger mit entgeistertem Blick einen halben Meter Sicherheitsabstand. "Da waren mir zu viele Steine drin. Vielleicht nehmen wir einen anderen Song. Das ist der Erste, den ich lieben gelernt habe, als ich nach Deutschland kam. Da standen sie dann mit Schildern... "Naghavi Welcome". Das ist ernster, als es die Ansage vielleicht vermuten lässt. Die wenigsten von euch kennen dieses Thema noch. Auch ich bin jemand, der lieben kann. Vor allem sich selbst. Jeden Morgen sehe ich dieses Wunder der Natur und denke mir, "Wie kann man nur so unfassbar gut aussehen? Unglaublich." Jeden Morgen mit diesem geilen Gesicht aufzuwachen, ist selbst für mich zu viel. Deswegen haben ich euch diesen Song mitgebracht. Damit ihr das Gefühl habt, für einen Moment Ich sein zu dürfen.". Mit diesen Worten geht Naghavi langsam zur vorderen Bühnenkante und lässt sich mit einem beherzten "Hüpf!" in die erste Reihe des Saals fallen. "Jetzt wisst ihr auch, warum ich wollte, dass ihr sitzt. Ansonsten würde man hier ja nur einen nervösen Haaransatz herumlaufen sehen.", ironisiert er sich selbst und beginnt mit den ersten Zeilen von "So Klingt Liebe". In bester Komödianten-Manier streift er gemächlich durch die Reihen, lässt seinen Blick schweifen, schüttelt dem ein oder anderen verwunderten Besucher plötzlich die Hand und animiert zum gemeinsamen Singen des Refrains. Zur allgemeinen Erheiterung aller, hat der quirlige Frontmann danach jedoch erhebliche Probleme, ohne fremde Hilfe wieder auf die Bretter zurückzukommen. Als auch diese Hürde endlich genommen ist, gönnt sich Naghavi erst einmal einen Zug von seiner E-Zigarette. "Das sind dann auch nochmal sechs Euro.", merkt er an und greift dann wieder zur Wasserflasche. "Pro Schluck sind's fünfzig Cent. Geil, reich! Jetzt wird's ernst, denn ich habe sehr viel Respekt vor meinem geschätzten Kollegen aus Hamburg. Merkwürdigerweise spielen wir heute nur Cover-Versionen aus Hamburg. "Timekiller" ist auch gut, wobei die wenigsten gerafft haben, dass das gar kein "And One"-Song ist. Das sehe ich dann immer bei "YouTube", selbst wenn Peters Stimme zu hören ist. Der findet das nicht so lustig.", merkt er an und schweift dann wieder ab. "Ich liebe die Szene ja so sehr, weil es hier einfach keine Gewalt gibt. So RnB- oder Stino-Läden sind nichts für mich. Da fragt dich dann immer einer, "Hey, hast du meine Frau angeguckt?!". Da sagst du dann, "Nee, ist nicht mein Typ." und dann kommt "Was, willst du nicht? Findest du hässlich?", ahmt Steve einen typischen Club-Dialog mit passendem Akzent nach. "Was Schlägereien in der Szene angeht, kann ich mich nur an zwei Stück erinnern. Die eine war von Peter Spilles, weil einer seine Frau blöd angemacht hat. Der hat voll eine ran bekommen, den hättet ihr nicht wiedererkannt. Da covere ich lieber nichts, ohne vorher zu fragen. Die zweite Schlägerei war meine eigene in Goslar. Wie ihr schon gemerkt habt, covern wir ausschließlich Songs von Bands, deren Sänger Peter heißen. Es ist eine Band, die ich bis heute schmerzlich vermisse. Als Fan, nicht als Konkurrent. Das ist natürlich gut, wenn man der Einzige ist, der übrig bleibt. Dann müsst ihr das alles ja hören. Zum Glück macht er alleine weiter. Es ist eine der grandiosesten Stimmen, die wir haben. Das empfindet er nicht so, ich schon. Dieses Lied sollte man eigentlich nicht covern, aber Naghavi ist ja alles scheißegal. Um den ehemaligen Heroen von "Wolfsheim" Tribut zu zollen, hat das Duo den unvergleichlichen Evergreen "Kein Zurück" auserwählt, den an diesem Abend vermutlich jeder der Anwesenden bestens kennt. Zugegeben, ein äußerst anspruchsvolles und heikles Unterfangen, bei dem das Scheitern nicht schwer fällt. Mit viel Charme und einem eigenen Interpretationsansatz, welcher den Geist des Originals zu jeder Zeit respektvoll wahrt, gelingt es Wieditz und Naghavi dennoch. Der lautstarke Beifall zeugt von einem vollen Erfolg. "Wir machen jetzt zwanzig Minuten Pause. Dann können die Frauen Pipi machen und die Männer sich den Kopf zuhauen, bis gleich!", verabschieden sich die beiden Musiker und verlassen geschlossen die Bühne.
Zeit genug also, um sich ein wenig die Beine zu vertreten, gewonnene Eindrücke zu verarbeiten und Feedback zu sammeln. Es dauert nicht sonderlich lange, bis sich die einzelnen Plätze im Saal geleert haben und ein nicht unerheblicher Anteil der anwesenden Gäste ausschwärmt. Manche von ihnen ordern neue Getränke an der Bar, stehen angeregt tuschelnd in den Gängen oder steigen die zahlreichen Stufen zum Ausgang hinauf, um ein wenig frische Luft zu schnappen. Ich tue es ihnen gleich, gebe meine "Astra"-Flasche an der Theke zurück und gehe anschließend nach draußen. Mittlerweile ist es kurz nach 22.00 Uhr und somit schon leicht dunkel am Himmel. Einige Wolken haben sich vor dem aufgegangenen Mond verzahnt, eine kühle Brise fegt durch die örtliche Straße. Die Meinungen sind, wie herauszuhören ist, durchweg geteilt. Während sich die eine Gruppe über die ruhigeren Stücke und Steves' steten Redefluss noch sichtlich freut, bemängeln wiederum andere die, ihrer Auffassung nach, viel zu langen, teilweise wirren Ansagen und ausgewählten Stücke. Auch sei ihnen bis auf die Beschränkung auf eher balladeske Titel, kaum ein wirklich spürbarer Unterschied zu den sonst dargebotenen Live-Versionen aufgefallen. Ganz unrecht haben sie damit jedenfalls nicht, denn bis auf die ausgewählten Cover- und Alternativ-Versionen, präsentierte sich ein Großteil des Sets bis zum jetzigen Zeitpunkt im altgewohnten Gewand. Ein wirklicher Vergleich zu den ansonsten üblichen Solo-Tourneen kann also schonmal nicht gezogen werden, doch wurde ursprünglich im Dezember 2016, bis auf einen deutlich entspannteren Rahmen und zahlreiche Anekdoten nach guter Storyteller-Manier, auch nichts gänzlich anderes angekündigt. Waren manche Erwartungen also einfach nur zu hoch? Was sich pünktlich zur Pause somit allerdings feststellen lässt, ist, dass Naghavi und Co. auch innerhalb der Anhängerschaft nach wie vor deutlich polarisieren, unberechenbar bleiben und dadurch so manches Mal die kollektiven Meinungen spalten. Langsam blicken die ersten Besucher wieder auf Uhr oder Handy und machen sich kurz danach daran, die Location wieder zu betreten. Ich folge der kleinen Ansammlung nach und suche meinen angestammten Platz auf. Als kurz darauf das Licht erneut erlischt, geht es schließlich weiter. Ein bekannter Beat bildet den Einstieg in die zweite Hälfte, als die beiden Protagonisten wieder auf der Bühne erscheinen und unverzüglich mit dem melancholischen "Zeit Ohne Zeit" starten. "Sehr aufmerksam von Ihnen, Dankeschön.", gibt der Sänger den bewusst gelackten Moderator. "Wir können uns schon duzen, oder? Ist doch albern, das "Sie". Wir kennen uns schon so lange. Den nächsten Song hasst Joke extrem. Wenn wir den bringen, verlässt er augenblicklich sein Schlagzeug und raucht, bis ich fertig bin. "Den könnte man ruhig vom Album nehmen, den vermisst keiner.", hat er gesagt. "Du irrst, ich kriege da immer Gänsehaut. Das kann doch dann nicht sein, dass den keiner mag.". Morgen ist er in Köln dabei und dann singe ich den ganz laut für Joke. Hier für dich, du Penner!". Obwohl einige Gäste sichtlich erheitert von dieser Ansage sind, scheint Naghavi alles andere als zufrieden zu sein. "Gibt es hier eigentlich keine Zwischenrufe? Das nervt total. So etwas wie "Hau rein!", "Hör auf zu quatschen!" oder "Spiel weiter!"... In Stuttgart haben wir ganz andere Erfahrungen gemacht. Da hat eine junge Dame das Motto "Bier und Sekt, bis ihr verreckt" sehr wörtlich genommen. Bei "And One" ist das ja Gang und Gäbe. Hier aber was das schwierig, denn nach jedem Satz von mir, fiel ihr auch etwas dazu ein. In der Pause haben wir sie dann gebeten, doch weiter hinten Platz zu nehmen. Weitere zehn Minuten später ist sie dort dann in auch zusammengesackt und hat in einen Eimer gekotzt. Sie hat das Konzept nicht verstanden. Ihr seid zu diszipliniert. Hier, wo man den Karneval erfunden hat und man sich mit Bonbons bewirft, gibt es keine Prolls, die dazwischenrufen? Kommt schon, wenigstens einer!", ermutigt er das Publikum. Nach einigem Zögern überwindet sich einer der Gäste, den Wunsch der Frontmanns zu erfüllen: "Mach weiter!". "Danke, jetzt werde ich auch etwas lockerer. Dann spielen wir weiter. Nicht so wie bei "And One", wo ich irgendwas labere, was eh keiner kapiert. Der nächste Song liegt mir sehr am Herzen, habe ich das schon erwähnt?". Nach dem selten gespielten "Men In Uniform" ist es wieder an der Zeit für ein weiteres Stück eines anderen Interpreten. Wer sich bisher verwundert darüber zeigte, dass die einstigen Jugendhelden des "And One"-Masterminds an diesem Abend bisher unberührt blieben, zeigten sich nun in ihrer Vorahnung bestätigt. "Das nächste Lied handelt von, oh Gott, Liebe. Aber dieses Mal von der Liebe zu einer Band. Meine persönliche Lieblingsband. Und wie in jeder Beziehung hat auch diese Höhen und Tiefen... "Pull the trigger!"., spielt der bekennende "Depeche Mode"-Fan auf den recht experimentellen Titel "Scum" vom aktuellen Album "Spirit" an. "Wer kennt das Neue? Echt, haben das nur so wenige gehört? "Depeche Mode" sind das, was man als Lebensretter bezeichnen könnte, zumindest für mich. Diese Band hat mir meine anstrengende Jugend versüßt und mich durchgebracht. "Egal was passiert ist, Walkman auf und weg war ich. Das war der einzige Lichtblick den ich nach der Schule hat... Manchmal auch während der Schule. Darum verzeiht mir, dass ich mir erlaubt habe, eine dieser Perlen herauszupicken. Ich möchte das gerne singen, egal wie scheiße. Einfach mir selbst zuliebe, für Bochum, Deutschland und die ganze Welt.". Anders als von vielen erwartet, überrascht das Zweigespann im Folgenden nicht etwa mit einem der bekannteren Stücke, wie "Enjoy The Silence", "Personal Jesus" oder "Never Let Me Down Again", sondern hat "The Things You Said" gewählt. Den Sound leicht modifiziert und an das entspannte Konzept der diesjährigen Konzertreihe angepasst, funktioniert die charmante Hommage ausgesprochen gut, wenngleich es an einigen Stellen stimmliche Barrieren gibt. "Ich bin den Tränen nahe, ist gleich vorbei. Wie finde ich jetzt eine Überleitung zum nächsten Song? Okay, pass auf! "Depeche Mode" sind so eine große Liebe... Wie... Als wenn... Nein?", versucht Naghavi möglichst passende Worte für den folgenden Track zu finden und blickt zögernd zu Wieditz. "... sowas wie eine Traumfrau wäre? Ja, schöne Überleitung. Das ist für alle "And One"-Fans!". Und so wird es zum ersten Mal an diesem Abend etwas temporeicher. Die relaxede Interpretation der "Traumfrau" kommt selbstverständlich weniger stampfend daher, vermag es gleichzeitig aber genauso, das Publikum wie auch schon sein Original mitzureißen.
"Auch wenn ihr bisher nichts davon geahnt habt, ist das ganze hier ein Testlauf dafür, die Konzerte von "And One" in Zukunft bestuhlen zu lassen...". Als sich einige Besucher über die eben kundgetane Information amüsiert zeigen, unterbricht Naghavi seine Ausführung und lächelt finster. "Erst lachen sie, dann weinen sie. Ich find's ehrlich gesagt ganz angenehm im sitzen. Welcher unserer Songs funktioniert eigentlich im sitzen? Eigentlich alle, oder?", stellt er fest und stimmt mit der tatkräftigen Unterstützung seines Musikers eine holprige Unplugged-Version des bekannten EBM-Schlagers "Deutschmaschine" an, welches im Refrain mit improvisierten Zeilen von "Starlight Express" einen Abstecher in ortsansässige Musical-Gefilde wagt. "Habt ihr ein Glück, dass ich gerade den Text von "Panzermensch" nicht weiß. Im Jahr 2027 spielen wir dann auf einem Kreuzfahrtschiff. Dann fragen mich die Leute so, "Spielst du hier etwa?" und dann sage ich, "Nein, ich bin nur beruflich hier.". "Aber ich habe da hinten so ein Plakat gesehen?". "Nein, das muss ein Irrtum sein.". Herr Kapellmeister, bitte! Einmal die Kreuzfahrt-Version von "Military Fashion Show". Wie schon sein Vorgänger im Set, hat es der anrüchige Tanzflächenfüller fast spielend leicht, auch in diesem neuen Gewand zu glänzen. Von derart mutigen Wagnissen fernab des zu erwartenden, hätte es durchaus gerne mehr sein dürfen. Da sind sich die Gäste einig. Wieder begibt sich Naghavi herunter von den Brettern und nimmt sichtbar genüsslich ein weiteres Bad in der Menge. Ironisch lehnt er sich zwischen die Reihen, lässt sich ausdauernd fotografieren und den ein oder anderen Fan einige Zeilen singen. "Ich muss mal auf die Toilette, ist noch Zeit dafür?", fragt er und verschwindet kurzerhand durch die Tür an der linken Seite in den Backstage-Bereich. Währenddessen gibt Wieditz die klangliche Überbrückung und ein ausgiebiges Outro zum Besten. Als sein Bandkollege wieder auf den Plan tritt und den Song somit zu seinem Abschluss bringt, erntet das Duo starken Applaus. "Wie sieht es denn hier mit dem VfL aus? Fußball ist was für "De/Vision"-Fans und eigentlich gar nicht so meins. Aber vom 1. FC Bochum weiß ich was... In welcher Liga spielen die eigentlich? Und welchen Platz haben die? Ist euch egal, oder? Typisch für "And One"-Fans. Naja, ich weiß ja nicht... Deutsche gegen Deutsche? "VNV Nation" gegen "And One"-Fans würde mehr Sinn machen!", stichelt der Sänger süffisant gegen die Genre-Kollegen. "Nein, das ist eine tolle Band und auch eine der besten Stimmen, die wir hier haben. So Fünf bis Sechs Jahre gebe ich ihm noch. Das ist schon ein Netter, auch wenn er auf Tour dauernd nur rumschreit. Der nächste Song ist für Ronan Harris. Das ist der erste Tag, an dem ich es öffentlich mache. Es kostet mich ziemlichen Mut, weil ich weiß, dass er eine starke Rechte hat. Professionell mag er mich, persönlich nicht so... Dieser Song sollte alles besser machen. Sagt es ihm aber nicht!", kündigt Naghavi ironisch das poppige "Love You To The End" an. Es ist eine dieser gewohnt kritischen Ansagen, die seit jeher auf einem schmalen Grad zwischen gewollt übertriebener Sketch-Provokation und purer Geschmacklosigkeit wandeln und für welche der Frontmann innerhalb der Szene berühmt und berüchtigt ist, von seinen Fans geliebt und seinen Kritikern gehasst wird. "Apropos Ronan... Das nächste Lied ist von 1997 und handelt von einem Menschen, der sich nicht sicher ist, was er sein möchte. Mann oder Frau, dumm oder dämlich, Berliner oder Bochumer. Wer kommt denn direkt aus Bochum? Ah, es sind wieder einige dabei, die es nicht so genau wissen. Sorry nochmal wegen der Christuskirche. Das hätte ich gerne gesehen... Ihr fünf Stunden lang auf Holzbänken. Ich habe hier heute auch schon gehört, "Warum denn Stühle?". Stellt euch das ganze Gequatsche mal im stehen vor. Scream?". Einige der geforderten Rufe sind zu hören, der Rest hält sich aufgrund des ungewohnten Ambiente noch immer höflich zurück. "Geil, Dankeschön. Hier kommt...", unterbricht Naghavi seine Ansage, als in der ersten Reihe plötzlich deutlich hörbar eine Flasche umfällt und die Stille zerreißt. Nachdem er sich von einem spontanen Lachanfall schließlich wieder erholt hat, setzt er erneut an. "Ihr seid mit Abstand die disziplinierteste Gemeinde auf dieser Tour und habt das Konzept voll begriffen. Nur ich bin davon irritiert, das bringt mich raus. Hier Bochum, für euch!". Der gefeierte Klassiker "Sometimes" und "Unter Meiner Uniform" führen klangvoll weiter durch die Setlist und auch hierzu gibt es offenbar einige Gedanken, die noch mit der Allgemeinheit geteilt werden wollen. "Ich glaube, den kann ich nicht ein einziges Mal bringen, ohne dabei an das Mera Luna 2014 denken zu müssen. Ein Tag, der mir aufgrund der Fernsehaufzeichnung noch sehr gut im Gedächtnis geblieben ist. Auch ein gelbes Hemd kann nicht von zu viel Flips und Hamburgern ablenken. Ja, das waren zwanzig kleine Probleme zu viel... Unter meiner Uniform war viel los. Und als ich beschlossen habe, mich nur noch von Wasser und Liebe zu ernähren, haben alle gesagt, ich sei zu dünn. So dünn bin ich doch gar nicht, oder? Ich habe mir heute extra ein cleveres Jackett angezogen. Ich war wirklich extrem fett, das müsst ihr zugeben. Die langen Redepausen nerven, oder? Ich überlege eigentlich gar nicht, ich genieße. Dieses Lied hier handelt von USB-Sticks. Natürlich eine gewitzte Anspielung auf das sphärische "Speicherbar", in dessen melodischem Mittelpart auch heute nach traditioneller Manier die Arme im Rhythmus geschwenkt werden. "Eine Ausnahme mache ich heute. Ihr dürft jetzt einmal applaudieren, wie sonst nur bei "And One". Aber auch nur einmal. Ich frage mich übrigens schon, warum ihr die ganze Zeit sitzt. Steht doch mal auf, wir sind doch hier nicht auf einem Kreuzfahrtschiff!", animiert der Fronter die Besucher. Tatsächlich kommen jetzt wirklich alle aus ihrer reservierten Komfortzone und beginnen zum Hit "Shouts Of Joy" langsam damit, ihre Scheu abzulegen. Auch wenn der Rahmen nach wie vor ein gänzlich ungewohnter bleibt, entwickelt sich im Zuschauerraum schnell der sonst so sehr gewohnte Flow. Naghavi ist mittlerweile wieder von seinem Hocker aufgestanden und fegt euphorisch über die Bühne, wenn auch aufgrund der dort vorherrschenden Kapazitäten, um einiges vorsichtiger als sonst. Auch für ihn scheint es ein lang erwarteter Befreiungsschlag zu sein und auch alle anderen haben klar ersichtlich ihre helle Freude an der neu gewonnenen Gelöstheit. "Ihr dürft euch wieder setzen", spaßt der Sänger. Als ein Fan in der ersten Reihe seinem Wunsch augenscheinlich wirklich nachkommen will, wendet er sich diesem entsetzt zu. "Alter, das war ein Witz. Steh wieder auf, Scream!". Das retrolastige "Recover You" setzt sodann den finalen Schlusspunkt, bei dem sich wirklich niemand mehr auf den Plätzen halten kann und die Zellen eifrig mitsingt. Ein mehr als gelungener und endlich wieder sehr vertrauter Abschluss, eines langen Abends. "Freunde, ihr habt's geschafft! Bochum, der nächste Applaus gilt euch. Ich bleibe dabei, ihr seid das disziplinierteste Publikum Musical- Publikum. Wir sehen uns bald bei "And One" wieder!". Sichtlich ermüdet und dabei doch überglücklich, positionieren sich die beiden Musiker zur Verabschiedung am vorderen Rand der Bühne und lassen sich kräftig feiern. "Ach, nicht vergessen... Das ist ganz wichtig. Ich bin Steve Naghavi, das ist Nico Wieditz und zusammen sind wir Steve Naghavi! Kommt gut nach Hause. Egal, wie lange ihr schon zusammen seid: Fünf Minuten können nicht warten, besorgt es euch!". Unter schallendem Beifall nimmt sich das Duo in die Arme und winkt den Gästen ein letztes Mal zum Abschied, bevor ein relaxeder Abend nach guten drei Stunden sein wohlverdientes Ende findet.
Setlist:
01. Intro
02. Sexkeit
03. Krieger
04. Missing Track
05. Dein Mann
06. 1000 Tränen Tief
07. Für
08. Dein Duft
09. Keiner Fühlt's Wie Wir
10. So Klingt Liebe
11. Kein Zurück
12. Zeit Ohne Zeit
13. Men In Uniform
14. Traumfrau
15. Military Fashion Show
16. Love You To The End
17. Sometimes
18. Unter Meiner Uniform
19. Speicherbar
20. Shouts Of Joy
21. Recover You
Impressionen:
Torsten Kutschka - Bong13
http://www.bong13.de/www.bong13.de/Home.html
https://www.facebook.com/TorstenKutschka